Kadaver-Tourismus an der Nordsee

■ In der Nordsee vor Sylt und Röm sind elf Pottwale gestrandet und verendet. Die toten Säuger werden zur Attraktion.

„Diese Respektlosigkeit“, sagt Lothar Koch, „hinterläßt ein trauriges Gefühl.“Der Biologe und Leiter der Schutzstation Wattenmeer auf der nordfriesischen Insel Sylt steht leicht fassungslos dem Kadaver-Tourismus auf der benachbarten dänischen Ferieninsel Röm gegenüber. Hunderte Autos und sogar Busse rollen auf den Strand, in direkte Nähe zu den beiden toten Pottwalen. Kinder klettern auf den 15 Meter langen Walen herum, Familien posieren zum Erinnerungsfoto, und die nur ein paar Schritte entfernte fahrbare Würstchenbude ist dicht umlagert.

Kochs Kollegen von dänischen meeresbiologischen und zoologischen Instituten untersuchen die Pottwale und versuchen, bevor der Fäulnisprozeß einsetzt, zu retten, was zu retten ist, bevor die Leichenfledderer zugreifen. Denn auch tote Wale sind durch das Wa-shingtoner Artenschutzabkommen geschützt.

Nur diese zwei der elf jeweils 20 bis 30 Tonnen schweren Meeressäuger konnten gestern auf der Sandbank Juvre – rund drei Kilometer vor der Insel – geborgen werden. Wasser- und Windverhältnisse lassen das ganze Unternehmen zu einer voraussichtlich mehrwöchgen Arbeit werden. Die Wale müssen zunächst mit Booten in Strandnähe gezogen werden. Zwei Radbagger schaufeln und wälzen sie dann auf den festen Strand, der für Lkw zugänglich ist.

16 der riesigen Meeressäuger irrten fast eine Woche lang in der Nordsee zwischen den Niederlanden und den nordfriesischen Inseln herum, bevor die meisten der halbwüchsigen Tiere vor Sylt und Röm bei einsetzender Ebbe auf der Sandbank hängenblieben. Die Pottwale haben sich nach Ansicht der Experten auf dem Weg vom Nordatlantik in Richtung Afrika vor Schottland falsch orientiert und sind so in die Nordsee geraten. Aus dieser „Sackgasse“fänden sie, da sie sich nicht westlich Richtung Kanal, sondern naturgemäß nach Süden orientierten, nun nicht mehr heraus.

Wegen Futtermangels könnten auch die Wale, die nicht gestrandet sind, in absehbarer Zeit verenden, befürchtet Koch. Normalerweise ernährten sich die Zahnwale in der Tiefsee von größeren Tintenfischen. „Die gesamte Schule ist sicherlich dem Tode geweiht“. Der zur Gattung der Zahnwale gehörende Pottwal ist weltweit verbreitet. Der Bestand der gesellig lebenden Säuger wird auf etwa zwei Millionen geschätzt. Friedhelm Caspari