„Schon immer bekloppt“

Ausgerechnet beim zweitklassigen FC Middlesbrough bereitet sich Englands Paul Gascoigne auf die WM vor  ■ Aus Reading Ronald Reng

Auch Readings kleinster Sender, das Krankenhaus-Radio, ist live dabei, als Paul Gascoigne im Sportpark der Kleinstadt den Ball führt, und Tausende Zuschauer ihm entgegen schreien: „Du bist fett, und du schlägst Deine Frau!“

Willkommen in Reading, willkommen am neuen Arbeitsplatz. Seit zwei Wochen spielt der berühmteste Fußballer Großbritanniens für den FC Middlesbrough in der zweiten Liga Englands. In Spielen gegen Mannschaften namens Bury FC oder – wie am Ostermontag – Reading FC will sich der 30jährige Gascoigne auf den Höhepunkt seiner Laufbahn vorbereiten, die in zwei Monaten anstehende Weltmeisterschaft. Scherze hat er immer geliebt, aber der Rückschritt in die Zweitklassigkeit ist ihm offenbar ernst.

Gascoigne ist nicht freiwillig hier. Sein bisheriger Verein, der schottische Meister Glasgow Rangers, drängte ihn zum Wechsel. „Keine Frage, Rangers wollte uns loswerden“, sagt Gazza (er redet gerne von „uns“, wenn er sich meint). Ständig war er verletzt, und wenn gesund, lieferte er im Schnitt für jedes hinreißende Spiel zwei peinliche Aussetzer. Der Tag, als Rangers ihn bat zu gehen, „war der traurigste Tag meiner Karriere“, sagt Gascoigne. Viel Auswahl hatte er nicht, dem Vernehmen nach war außer Middlesbrough nur Crystal Palace, der Tabellenletzte der ersten Liga, bereit, die geforderten zehn Millionen Mark Ablöse und 75.000 Mark Wochenlohn zu zahlen. Nie zuvor hat Gazza das Gefühl, nicht mehr gefragt zu sein, so deutlich gespürt.

Und gleichzeitig weiß jeder, daß es noch immer keinen besseren Mittelfeldspieler gibt als einen guten Gascoigne. Das sind die Extreme, zwischen denen er sich nun schon acht Jahre lang bewegt: Er bricht sich den Arm (als er versucht, einem Gegner einen Ellenbogencheck zu verpassen) oder schlägt seine Frau krankenhausreif, dazwischen schwört er, sich zu ändern, zeigt ein, zwei großartige Spiele – und dann schrammt er sich die Kniescheibe böse (weil er im Nachtklub umfällt). Englands Nationaltrainer Glenn Hoddle hat ihn zuletzt für ein Länderspiel nicht nominiert, aber zur WM wird er ihn mitnehmen, selbst als Zweitligaspieler; getrieben von der vagen Hoffnung, daß ein, zwei große Auftritte mal wieder fällig sein könnten. Seine letzten guten Spiele machte Gazza vergangenen Herbst, für England gegen Moldawien und Italien, als „ihr alle geschrieben habt, ich sei die tollste Sache seit der Erfindung des geschnittenen Brots“, wie er Journalisten erinnert, die ihm nun vorhalten, er sei nur noch „ein halber Spieler und eine volle Peinlichkeit“ (Daily Telegraph).

Nun, da alle Welt auf ihn einprügelt, legt Gazza wieder eine engagierte Phase ein. Er hat „seinen ernsten Kopf auf“, wie das Bryan Robson, Trainer beim FC Middlesbrough, nennt. Nur einmal erlaubt sich Gazza in Reading einen Scherz. Als Marco Branca das Tor zum 1:0-Sieg des Dritten beim Letzten der Tabelle erzielt, tut Gazza so, als würde er sich in die Hand spucken, ehe er sie dem Italiener zur Gratulation reicht. Seine Pässe sind akkurat, er zeigt Initiative und kann vereinzelt sogar sehenswerte Dribblings starten, weil Reading eine nette Elf ist, die ihm viel Platz läßt. Das wird wohl die Ausnahme bleiben. In den vorangegangenen drei Spielen bekam er schmerzhaft zu spüren, daß in der zweiten Liga Fußball Kampfsport ist. „Es ist Blut und Donner“, sagt Middlesbroughs Angreifer Paul Merson.

Das Risiko, daß sich Gascoigne verletzt und sich die WM für ihn erübrigt, ist nicht gering. Größer jedoch ist die Gefahr, daß Gazzas schlimmster Gegner wieder zuschlägt: Er selber. „Er war schon immer völlig bekloppt“, sagt Steve Stone, der bei Middlesbroughs Aufstiegskonkurrenten Nottingham Forest spielt und einst mit Gazza zur Schule ging. „Damals hat er sich Sahnebonbons stundenlang in die Socken gesteckt und sie dann den Lehrern zum Essen angeboten.“