Sanfte Gegengifte statt Schnellschußdiagnostik

■ Rund 140 Ärzte mit der Zusatzqualifikation „Naturheilverfahren“ praktizieren in Berlin. Strittig ist, welche Therapieformen seriös sind und von den Kassen finanziert werden sollten

Der gute alte Onkel Doktor ist in Verruf geraten: Anstelle von Schnellschußdiagnostik und bitteren Pillen suchen mittlerweile die meisten Menschen die eingehende Beratung und möglichst sanfte Gegengifte. Viele Patienten sind daher nicht nur krank, sondern auch verunsichert: Welche Methode verspricht Gesundung? Greifen Arzt oder Apotheker womöglich fahrlässig in den Giftschrank? Oder unterschätzt der Heilpraktiker doch den Ernst der Lage?

Die meisten Menschen bekommen diese Frage noch immer von ihren Kontoauszug beantwortet. Weder die Behandlung durch den Heilpraktiker noch die Präparate, die er verschreibt, werden von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert. Trotzdem sind etwa 140 Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzqualifikation „Naturheilverfahren“ im Berliner Branchenbuch verzeichnet, die Liste derer mit offizieller Ausbildung in Homöopathie umfaßt rund 70 Praxen. Und ganz allgemein hat sich die Schulmedizin den „komplementärmedizinischen Ansätzen“ geöffnet: Nach einer Studie der Universität Marburg aus dem Jahr 1996 befürworten knapp zwei Drittel der praktizierenden Ärzte alternative Heilverfahren. Viele haben sich autodidaktisch fortgebildet oder Seminare besucht, ohne nun einen entsprechenden Zusatztitel auf der Visitenkarte zu führen.

Verwirrung und Streit herrscht allerdings in der Frage, welche der zahlreichen Verfahren, die unter dem Rubrum „Alternativ“ daherkommen, Anerkennung verdienen. Wilhelm Breitenbürger, niedergelassener Arzt in Kreuzberg, umreißt die allgemein geteilten Kriterien: „Die Therapie sollte den Patienten zur Eigeninitiative anregen, sollte so einfach wie möglich gestaltet und partnerschaftlich vermittelt werden. Und sie muß wissenschaftlich überprüfbar sein oder plausibel erscheinen.“ Breitenbürger ist als Mitglied des Arbeitskreises Naturheilverfahren der Berliner Ärztekammer an der Organisation der „Naturheiltage Berlin“ beteiligt. Der mehrmalige Besuch dieses Kongresses, der zweimal jährlich stattfindet, gehört zur Zusatzausbildung. Hier werden die sogenannten klassischen Naturheilverfahren gelehrt, die unstrittig sind und von den Kassen bezahlt werden. Dazu gehören beispielsweise Atem- und Bewegungstherapie, Hydro- und Thermotherapie, Ernährungs- und Entspannungstherapie, ebenso die Phytotherapie, die Behandlung mit Heilpflanzen. Diese wird häufig mit der Homöopathie verwechselt, der die höheren Weihen der Schulmedizin nach wie vor versagt bleiben: Die Heilkraft von Substanzen, die aufgrund mehrfach wiederholter Verdünnung im Präparat nicht mehr nachweisbar sind, gilt als unbewiesen, vielen auch als unbeweisbar. Für homöopathische Behandlungen bei Ärzten mit entsprechender Zusatzausbildung zahlen die Kassen trotzdem. Die Therapieerfolge werden mit einem erstaunlich hohen Placeboeffekt erklärt. Der verdankt sich demnach vor allem den ausführlichen Gesprächen mit dem Patienten, die ihm ein Gefühl der Wertschätzung vermitteln und verstärkt die Lebensumstände miteinbeziehen.

„Das ,Setting‘ in homöopathischen Praxen ist hochkultiviert“, meint auch Breitenbürger, „dieses erfolgreiche Geheimnis zu erforschen, würde die Medizin insgesamt weiterbringen.“ Doch von zweistündigen Anamnesen können die meisten Ärzte derzeit freilich nicht einmal träumen, da Gespräche mit den Patienten nach der Gebührenordnung der Kassen nur gering honoriert werden. Mit mehrfachen intensiven Beratungen sprengt auch der Arzt mit homöopathischer Ausbildung schnell das maximale Budget, das die Kassen ihm über Fallpauschalen zugestehen: Die Gebührenordnung zwingt ihn, möglichst viele Patienten möglichst kurz zu behandeln.

Wer angesichts dieser Umstände lieber einen Heilpraktiker aufsuchen möchte oder ohnehin Verfahren bevorzugt, die schulmedizinisch nicht anerkannt sind, erleidet zusätzlich zu seinen Beschwerden die Qual der Wahl: Da die Heilpraktikerprüfung der Gesundheitsämter noch immer vorrangig abfragt, was der Heilpraktiker nicht darf, kann man vom Praxisschild nicht einfach auf geprüfte Fähigkeiten schließen. Das Ausbildungsspektrum reicht vom windigen Crashkurs zur Prüfungsvorbereitung bis zum dreijährigen Besuch einer seriösen Heilpraktikerschule. Ob nun Akupunktur, Bachblütentherapie, Reiki oder Fußreflexzonenmassage – Fachleute empfehlen, sich auf Empfehlungen zu verlassen. Holger Wicht

Die Berliner Ärztekammer empfiehlt die Beratungsstelle „Patienteninformation Naturheilverfahren e. V.“, erreichbar Montag bis Donnerstag unter Tel.: 45475207.