Das ganze Leben eine Übung

■ Die Alexander-Technik ist eine Körperpädagogik, mit der alte Gewohnheiten überwunden werden sollen. Die Lehre hilft Künstlern und Büromenschen, ihre Verspannungen abzulegen

Die Augen sind immer schneller. Und die Gedanken erst recht. Wer denkt, wenn er von einem Stuhl aufsteht, schon ernsthaft an seinen Bewegungsapparat? Die Augen sind bereits an der Tür, im Kopf rast man längst durch den Supermarkt und überlegt, was man noch alles einkaufen muß. „Wenn wir uns bewegen, gehen wir meist direkt auf unser Ziel zu, ohne darüber nachzudenken, wie“, eröffnet die zierliche Elisabeth Molle die Unterrichtsstunde.

Auf diese Weise haben sich beim jahrelangen Sitzen in Autos, vor Fernsehern und Computern ungesunde Bewegungsmuster eingeschliffen. Um diese Schablonen mittels der Alexander-Technik zu vermeiden, sitzt man jetzt auf einem Stuhl in einer Berliner Fabriketage und wiederholt so banal anmutende Tätigkeiten wie Aufstehen und Hinsetzen.

„Mit der Alexander-Technik lerne ich, an meinem Ziel festzuhalten, aber mich damit zu beschäftigen, wie ich meinen Körper behandele“, erläutert Elisabeth Molle die Idee. Ehe man losstürmt, gilt es also, zuerst „den Nacken freizudenken“. Die Lehrerin hilft dabei, indem sie mit dezentem Druck den Nacken stützt, die andere Hand auf den Hals legt. Ihre Berührungen sollen ein Gespür für die eigenen Körperdimensionen vermitteln. Dann langsam sich nach vorne und oben aufrichten. Immer wieder halt machen. Nicht auf Impulse reagieren. Zuerst überlegen. Und nicht vor lauter Konzentration verkrampfen.

„So werde ich nie aufstehen können“, sei die typische Reaktion ihrer Zöglinge nach der ersten Lektion, sagt Elisabeth Molle. So zeigt sie zum Ansporn an einem Skelettpüppchen, wie die Wirbelsäule sich verkürzt, wenn der Nacken angespannt ist und der Kopf auf das Rückgrat drückt. Sie erklärt: „Manche Muskeln werden stärker als andere belastet.“ Durch die Alexander-Technik sollen hingegen alle Muskeln gleichmäßig koordiniert werden. Die Wirbelsäule bleibt lang, wenn der Kopf auf ihr wie auf einer Sprungfeder balanciert.

Auch der Erfinder dieser Technik war verspannt. Der australische Schauspieler Frederick Matthias Alexander sah Ende des letzten Jahrhunderts seine Existenz bedroht. Beim Vorsprechen versagte ihm regelmäßig die Stimme. Als alle ärztlichen Behandlungsmethoden fehlschlugen, begann Alexander selbst an sich zu experimentieren. Bei Proben vor dem Spiegel erkannte er, daß sich sein Nacken beim Rezitieren regelmäßig verkrampfte. Dadurch entstand ein Druck auf den Kehlkopf, der wiederum die fatale Heiserkeit verursachte. Hatte Alexander dieses Spannungsmuster einmal durchschaut, lernte er sich so zu steuern, daß das Schema durchbrochen wurde. Damit verschwand auch die Heiserkeit. Dies veranlaßte Alexander, von der Einheit psychischer und körperlicher Prozesse auszugehen.

Elisabeth Molle demonstriert, was gemeint ist: „Bevor man seinen Arm hebt, muß man erst einmal den Gedanken haben, ihn zu bewegen.“ Außerdem habe jede Geste eine emotionale Seite. Molle veranschaulicht dies, indem sie mit einem breiten Lächeln ihre Hand nach oben streckt. Gleich darauf tut sie mit einer eher gleichgültigen Miene so, als würde sie etwas vom Boden aufheben. Das erinnert jetzt etwas an den abgedroschenen Pantomimekünstler in der Fußgängerzone. Aber die Alexander- Technik ist nicht nur Körperpädagogik für Künstler. Auch wenn vor allem Musiker, Sänger, Tänzer, Schauspieler und „Menschen, die ihren Körper als Instrument benutzen“, zu ihr kommen, erzählt Elisabeth Molle. Mehr und mehr Leute, die den ganzen Tag vorm Bildschirm sitzen, fänden Gefallen an der Bewegungslehre. „Eben Leute, die was für ihren Körper tun wollen.“ Darunter seien auch Hausfrauen, Lehrer und Sekretärinnen, sagt sie.

Die von Migräne und Rückenschmerzen Geplagten warnt die Lehrerin: „Acht Stunden auf einem Stuhl vor dem Computer sitzen ist sehr hart für den Körper.“ Man könne aber lernen, auf eine Art „aktiv“ zu sitzen, die weniger anstrengend sei. Indes ist die Alexander-Technik keine klassische Rückenschule und hat auch mit Bewegungsmethoden à la Feldenkrais nichts zu tun. „Bei Feldenkrais lernen die Leute viele, viele Übungen. Bei der Alexander- Technik ist das ganze Leben eine Übung. Es gibt kein Richtig und kein Falsch“, erläutert Moll den Unterschied. Trotzdem heißen ihre Kunden „Schüler“. „Wir sind keine Therapeuten, sondern Lehrer, die Menschen eine neue Art beibringen, mit sich selbst umzugehen“, meint die gelernte Tänzerin, die eine dreijährige Ausbildung in Alexander-Technik in New York absolviert hat. Nach etwa 20 bis 30 Einzelstunden beherrsche man laut Molle die Technik so gut, daß man keinen Lehrer mehr brauche. Wer den angewöhnten starren Verhaltens- und Bewegungsmustern auf die Schliche gekommen ist, die der freien Koordination der Muskeln im Weg stehen, muß daran nicht mehr festhalten. „Es geht schließlich darum, zu lernen, daß wir immer eine Wahl haben“, stellt Elisabeth Molle fest. Der wiederhergestellte koordinierte Zustand des Körpers gebe ein Gefühl von Leichtigkeit. Zugleich verbessere sich die Atmung. Nicht zuletzt wurde Alexander zu seiner Zeit „the breathing man“ genannt. Kirsten Küppers

Weitere Informationen zur Alexander-Technik sind bei der Gesellschaft der Lehrer der F.M. Alexander Technik e.V. (G.L.A.T.) erhältlich. Postfach 5312, 79020 Freiburg, Fon/Fax (0761) 38 33 57