Der Mann von gestern

Paul Noacks Biographie über Ernst Jünger zerfällt in zwei ungleiche Teile und scheitert für den Zeitraum nach 1945  ■ Von Klaus Modick

„Es ist erstaunlich, wie aus den krausen Linien des Lebens eine Zeichnung wird, oft jäh hervorspringend wie ein Vexierbild im Augenblick seiner Auflösung.“ So lautet ein Tagebucheintrag Ernst Jüngers, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg notiert wurde und nun zur erklärten Absicht einer Biographie wird, die ein halbes Jahr nach Jüngers Tod erscheint. Ihr Verfasser, der Münchner Politologe Paul Noack, hatte sich 1993 mit einer Biographie über Carl Schmitt bereits einer anderen konservativen Skandalfigur der deutschen Geistesgeschichte zugewandt. „Im ×uvre Jüngers“, so Noacks Befund, „gibt es alles, was man ihm vorwirft: Kriegsverherrlichung, Kitsch, Geziertheiten, Halbbildung, politische Ahnungslosigkeit und moralische Indifferenz. Doch das Gegenteil gibt es auch, und die Frage, wieweit gerade die abträglichen Seiten seines Charakters ihn befähigten, zu erkennen, was er erkannte, und zu schreiben, was er geschrieben hat, läßt sich nicht beantworten.“

Beantworten, zumindest jedoch nachzeichnen lassen sich allerdings jene Fragen, denen Jüngers ebenso umfangreiches wie widersprüchliches Gesamtwerk im Lauf der Zeit und unter unterschiedlichen Rezeptionshorizonten ausgesetzt war. Zusammenfassend stellt Noack fest, daß die inneren Widersprüche, Doppeldeutigkeiten und Gebrochenheiten in Jüngers Leben zahlreich und konstitutiv waren, „und womöglich liegt ein Teil seines Erfolgs und seiner immer wieder höchst wirksamen Verführungskraft darin begründet, daß er selten tat, was man von ihm erwarten durfte. Als er noch davon schwärmte, die Welt in die Luft zu sprengen, schrieb er doch gleichzeitig in bourgeoisen Blättern; als rechtsrevolutionärer Schriftsteller hatte er den Nationalsozialisten Paroli geboten; als Nihilismus das Schlagwort der Stunde war, hat er sich auf das Christentum berufen. Das war etwas anderes als Lust an der Provokation oder eine Vorliebe für überraschende Effekte. Vielmehr hat Jünger, ob willentlich oder unter dem Einfluß äußerer Umstände, sein Leben immer wieder antizyklisch angelegt: Er entschied sich aus dem historischen Moment heraus und mit ganzem Einsatz, der Rest hat ihn nicht gekümmert.“

Gleichwohl gelingt es Noack, den verwirrenden Facettenreichtum Jüngers unter einer klaren Perspektive zu bündeln, indem er die Wege und Abwege dieses Autors während seiner Passage durchs 20. Jahrhundert dem aussterbenden Typus des Abenteurers zurechnet. Im Originalmanuskript der Kriegstagebücher, aus denen Jünger „In Stahlgewittern“ komprimieren sollte, findet sich ein seiner Mutter gewidmetes Gedicht mit der Zeile: „Mich reizt die wilde Schönheit der Gefahr.“ Diese Zeile wird zur Stimmgabel für Jüngers Leben und Werk, sozusagen zum Signum des Abenteurers, dessen Abenteuer „nicht nur solche des Krieges oder der geographischen Ferne, sondern auch solche des Traums oder des Rausches, ja solche des Lesens und der Bildung“ waren. „Ihnen gemeinsam ist, daß sie immer wieder jenes Moment elementarer Fremdheit aus sich hervorbringen, dem Jüngers größte Faszination galt und das er in nahezu endloser Variation beschrieben hat.“

Jüngers extrem langes Leben, er starb kurz vor seinem 103. Geburtstag, ist ungewöhnlich gut dokumentiert, zumindest in Selbstaussagen, da eins der Hauptwerke, wenn nicht das Hauptwerk dieses Autors, seine Tagebücher bilden. Auch wenn sein umfangreiches Archiv und die diversen Briefwechsel noch nicht ediert sind, läßt sich gut und verhältnismäßig eindeutig bestimmen, wann, wie und warum Jüngers Entwicklung jene Wendungen nahm, die seine Widersprüchlichkeit ausmachen.

Noacks Biographie zerfällt allerdings in zwei sehr ungleiche Teile. Der erste, von Noack weitgehend überzeugend bewältigte Teil, behandelt die Jahre bis 1945, die bürgerliche Kindheit, die antibürgerlichen Affekte des Schülers, der in die Fremdenlegion ausreißt, die lebenslang prägenden Erfahrungen der Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs, die antidemokratischen, publizistischen Aktivitäten der zwanziger Jahre, die Verweigerung gegenüber den Nationalsozialisten, die innere Emigration und die Zeit als Besatzungsoffizier in Paris. 1945 hatte Jünger zwar bereits eine fünfundzwanzigjährige Karriere als Autor hinter sich, aber es folgten noch weitere fünfzig Jahre, die von Noack nur kursorisch, möglicherweise unter Zeitdruck leider auch recht oberflächlich abgehandelt werden. Zwar verläuft Ernst Jüngers Leben im zweiten Teil des Jahrhunderts nach außen hin sehr viel ruhiger, aber die geistige Abenteuerlust bleibt virulent.

Die letzte große Auseinandersetzung um Jünger findet 1982 statt, als man ihm den Goethe- Preis verleiht. „Das Land“, bemerkt Noack treffend, „arbeitet an Jünger wie an einem letzten Block antidemokratischen Denkens seine demokratische Selbstbestimmung und die Grenzen der ihm möglichen Toleranz heraus.“ Dabei macht Noack aber im Grunde den gleichen Fehler, den er den ideologischen Gegnern Jüngers zu Recht ankreidet: daß sie sich nämlich weniger mit dem Werk als mit dem „Fall Jünger“ befaßten. Unter den Werken, die Jünger nach 1945 als ein wahrhaft Unzeitgemäßer verfaßt, als Autor, der sich selbst und selbstbewußt als „Mann von gestern“ begreift, finden sich nicht wenige, die dennoch oder vielleicht sogar wegen dieses radikalen Einzelgängertums von origineller Zeitgenossenschaft künden und immer noch zu entdecken wären. Der Roman „Eumeswil“ etwa, in dem Jünger postmoderne Positionen erreichte, ohne diese explizit zu diskutieren; die Erzählung „Gläserne Bienen“, in der Entwicklungstendenzen des technologischen Fortschritts parabelhaft und weitsichtig behandelt werden; oder auch der Großessay „Annäherungen“ über Drogen und Rausch und, natürlich, die fünf Tagebuchlieferungen von „Siebzig Verweht“, in denen Jüngers ganzheitlicher Ökologiebegriff entfaltet wird. In Martin Meyers fulminanter und umfassender Studie über Jünger von 1990, auf die sich Noack so gut wie nie bezieht, sind diese späten, fruchtbaren und, wie sich noch zu zeigen hätte, wichtigen Jahre Jüngers weitaus subtiler gewürdigt worden als in Paul Noacks Biographie, die somit den unguten Nachgeschmack hinterläßt, zumindest im zweiten Teil mit einer allzu heißen Nadel gestrickt worden zu sein.

Paul Noack: „Ernst Jünger. Eine Biographie“. Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 368 Seiten, 44 DM