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: Vor der Wahl ist nach der Wahl

Spaß beiseite, es ist ernst geworden. Nach Bürgermeister Henning Scherfs in der Illustrierten Focus zitierten Äußerung, nach der Bürgerschaftswahl am 6. Juni lieber in Koalition mit der CDU weiter regieren zu wollen als allein mit seiner SPD, sitzen die Bremer PolitikerInnen im Strategievakuum. „Die CDU überlegt schon, Herbert Grönemeyer beim Wahlkampf singen zu lassen: ,Deine Liebe klebt'“, spottet eine Sozialdemokratin über die Lage des Koalitionspartners. CDU-Politiker kontern mit Gekicher über die hilflosen Reaktionen selbst der Rot-Grün-orientierten GenossInnen (vgl. taz von gestern). Doch hinter dem Spaß lauert für alle das Dilemma. So fürchten entnervte Sozis um ihre Stammwählerschaft und fragen: „Wie sollen wir unsere Leute jetzt noch für den Wahlkampf motivieren?“ Und die CDU, die den scheinbaren Aufschwung in Bremen vor allem als eigene Leistung verkaufen will, muß sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie sich – against the horse's mouth – überhaupt im Wahlkampf positionieren kann. Denn Scherfs Schmusekurs ist eine Geste des Stärkeren, und der Bürgermeister weiß das auch.

Sein Vor-Vorgänger Hans Koschnick hat schon vor Monaten gesagt, er fühle sich durch die Große Koalition an die Politik der Nachkriegszeit erinnert. Mit seiner Focus-Äußerung bekennt sich auch Scherf zum Wilhelm-Kaisen-Modell der ganz großen Koalition aus SPD, CDU und FDP der Wirtschaftswunderjahre. Diese Versammlung von Kaufleuten und Arbeitern, von weißen und blauen Kragen an einem Senatstisch hat seine Entsprechung in vielen Gemeinden der deutschen Provinz, in denen allmächtige Wählergemeinschaften die Politik bestimmen. Sie erinnert aber auch an das alte marxistische Ideal, daß Parteien eines Tages keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch über Sachfragen diskutiert werde. Beides setzt allerdings voraus, daß es überhaupt Diskussionsstoff gibt. Doch in Bremen ist der Wettbewerb der Ideen – wenn es ihn überhaupt gegeben hat – mit Ausnahme der Sachfrage „Hafenentwicklung“ in allen wesentlichen, also teuren Punkten entschieden. Die Ironie dieser Geschichte: Viele Weichen hatte schon die verhaßte Ampelkoalition gestellt.

Es ist schon seltsam, was der Aufschwung auf Pump mit den Leuten macht. Unter einer SPD-Regierung wurde über Baustellen gejammert, heute freut man sich über jeden Umweg. Auch die Opposition – also die Grünen sind völlig sprachlos geworden. Sie beklagen, daß über Alternativen nicht diskutiert werde, statt sie selbst zu sammeln und zu vertreten. So ist am 6. Juni nichts mehr zu entscheiden außer der irrelevant gewordenen Abstimmung über das Weiter so. Nach der Wahl werden sich die Kommentatoren „erschrocken“ über die geringe Beteiligung geben. Und vielleicht gesellt sich noch Empörung über den „überraschenden“ Wiedereinzug der Ultrarechten in die Bürgerschaft hinzu.

Christoph Köster