Entsetztes Schweigen

Die Neuköllner Oper probt das Kammermusical „Fromme Lügen“: Ein Lehrstück über jüdische Identität? Irene Dische hat den Text geschrieben   ■  Von Miriam Hoffmeyer

„Blut ist dicker als Wasser“, singen die drei Schauspieler. Schon zum dritten Mal. Der junge Regisseur Bernd Mottl ist trotzdem nicht zufrieden. „Muss ich es wirklich noch einmal zeigen ... na gut!“, klagt er lieb und macht die Schritte vor. Wieder greift der Pianist in die Tasten: „Ne große Stadt ist ne Familie ...“

Im Zuschauerraum sitzt eine zierliche Frau mit langen blonden Haaren. Sie ist 47 Jahre alt und ist aus den USA zu den Proben angereist. „Seltsam, dass das Stück jetzt doch noch aufgeführt wird. Ich habe das vor elf Jahren geschrieben. Es ist so schade, dass Alan das nicht mehr erlebt“, sagt sie.

1988 erhielten die amerikanische Journalistin Irene Dische und der inzwischen verstorbene Pianist Alan Marks den Auftrag vom Theater des Westens, ein Musical namens „Metropolitan Mommy“ über Berliner Immobiliengeschäfte zu schreiben. Nach den ersten Proben verschwand das Stück in der Versenkung – warum, weiß heute so recht niemand mehr. Auch mit einem Drehbuchprojekt hatte Irene Dische, die selbst Jüdin ist, damals keinen Erfolg. Interessiert begutachtete das ZDF die Geschichte Charles Allens, einen zum Katholizismus konvertierten Amerikaners, der Anfang der 80er-Jahre nach West-Berlin kommt. Er will das Erbe seines Vaters in Augenschein nehmen und versucht dabei gegenüber den Deutschen ängstlich, seine jüdische Abstammung zu verheimlichen. Dann lernt er Esther kennen, die ihr Judentum stolz zur Schau trägt und dabei jede Menge merkwürdige Geschäfte abwickelt. Das war dem ZDF zu heiß. „Die haben gesagt, das man so etwas in Deutschland nicht machen kann!“

Also arbeitete Irene Dische den Stoff zu einer Erzählung um. „Eine Jüdin für Charles Allen“ ist die erste und wohl beste Novelle des 1989 erschienenen Bandes „Fromme Lügen“, der Irene Dische als Schriftstellerin schlagartig bekannt gemacht hat. Jetzt hat sich die Neuköllner Oper der alten Drehbuchfassung angenommen, kombiniert mit den Songs aus „Metropolitan Mommy“. Entstanden ist ein Kammermusical, ganz seriös besetzt mit Klavier und Streichquartett: „Fromme Lügen“. Die düstere Handlung passe gut zu dem heiteren Genre, meint Irene Dische: „Ich mag solche Kontraste.“

„Peter Lund hat eine ganz neue Fassung komponiert, und er hat das sehr gut gemacht. Wenn man einen Film macht, gibt es nur Streit. Aber wenn ich mit Musik arbeite, bin ich als Librettistin von vornherein eine Art Dienstbotin, das geht in Ordnung.“ Die Schauspieler, die gerade nicht proben, befragen die Autorin wie ein Orakel über ihre Rollen. „Wie hat es Baruch als Kind bei der Selektion im KZ geschafft, arbeiten zu dürfen?“, fragt Anton Rattinger, der in dem Musical einen Juden spielt, der sich begeistert zu Deutschland bekennt. Auf der staubigen Treppenhaus-Plattform im vierten Stock der Neuköllner Oper diskutiert man darüber, in welchen Konzentrationslagern Kinder sofort umgebracht wurden und wo sie, wenn sie kräftig genug waren, arbeiten mussten.

„Ich stelle mir Baruch als einen Typen wie Manfred Krug vor“, sagte Irene Dische, die sich auf eine Treppenstufe gesetzt hat. Dann erzählt sie von ihrem Vater, der in einem Konzentrationslager in Frankreich gesessen hatte und den Kindern verbot, in seinem Haus über den Holocaust zu reden. „Mein Vater war ein Mann, der nie viel körperlich getan hat. Aber als er ein Buch über den Holocaust bei uns fand, hat er es in die Ecke geschleudert und gesagt: Das ist Pornografie!“ Irene wurde dazu erzogen, in ihrem Verhalten möglichst jedes Klischee zu vermeiden, das über Juden in Umlauf war und ist: „Wir durften nicht mit den Händen reden. Und wir durften auf keinen Fall über Geld sprechen!“

Charles Allen, der schüchterne Held der Erzählung, hat all diese Verhaltensregeln im Kopf. Die extrovertierte Esther setzt sich über sie hinweg. „Eine Frau wie Esther habe ich kennen gelernt, als ich 1980 nach Berlin gezogen bin. Wir haben in einer WG gewohnt. Sie erzählte überall, dass sie Jüdin war, und ich habe sie dafür bewundert.“ Dann fand Irene Dische etwas über ihre Mitbewohnerin heraus – und wurde aus der Wohnung geschmissen. Warum – das erfährt man in „Fromme Lügen“: Charles erlebt das Gleiche.

„Eigentlich war die Geschichte als Lehrstück über Juden in Deutschland geplant“, sagt sie. „In der Jüdischen Gemeinde reden die, die den Holocaust miterlebt haben, nicht darüber. Sie wollen nicht daran denken.“ Die Schauspieler machen sich Sorgen, weil im Text ein Jude einen anderen als „Untermensch“ beschimpft. „Sagt doch stattdessen: Dich haben sie vergessen zu vergasen“, schlägt Irene Dische unbekümmert vor. „In New York habe ich das mal gehört.“ Entsetztes Schweigen. „Das ist ja noch viel schlimmer!“, sagt schließlich einer.

Der Ärger um Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“, das das Gorki Theater doch nicht aufführte, ist in Berlin noch gut in Erinnerung. Auch in dem Kammermusical „Fromme Lügen“ kommt ein jüdischer Immobilienhai vor, und bei der Neuköllner Oper hat man ein bisschen Angst vor einem Theaterskandal. Gut möglich, dass viele diese kluge, beklemmende Groteske über jüdische Identität in Deutschland in den falschen Hals bekommen wirden

Auf der Bühne dreht sich Baruch, der KZ-Überlebende, zu jiddischer Folkloremusik ekstatisch um die eigene Achse. „Was a Glick – a Jidd unter Deutschen zu sein! Juden mag jeder Deutsche gern.“

Premiere am Donnerstag, 23. September, um 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131 – 133