Auf der Suche nach der Jugendkultur

■ Revolution auf dem Mars: Der Alltag eines osteuropäischen Intellektuellen

Ein Kulturredakteur einer Zeitung ruft mich an. Ich soll mir irgendwas zum Thema Jugendkultur einfallen lassen. Und das um 10 Uhr früh. Was ist das überhaupt, Jugendkultur? Der Redakteur führt sich auf wie ein bissiger Hund. Er meint, ich müsse mich auf dem Gebiet Jugendkultur auskennen – Widerstand zwecklos. Ich rufe meinen Freund Kolja an, der immer über alles Bescheid weiß. Er sagt, ich solle vielleicht MTV gucken, je länger desto besser. Das Programm beginnt um 8 Uhr morgens, den Anfang hatte ich also schon verpasst. Was soll's. Ich schalte den Fernseher an – dicke schwarze Männer tanzen um einen Baum herum.

Mein Telefon klingelt. Ein gewisser Herr Kravchuck, ein Reporter von Spiegel spezial, meldet sich und mault, er hätte für seinen Beitrag über in Berlin lebende Intellektuelle aus Osteuropa so gut wie niemanden gefunden, über den er schreiben könne. Nur ein paar ältere, frustrierte Russen. Bulgaren dagegen gebe es überhaupt nicht. Ich rege mich auf. Wie bitte? Bulgaren gibt es nicht? Die sind überall, man erkennt sie nur nicht, weil sie die Deutschen so perfekt nachmachen. Jedes Orchester in Deutschland hat einen bulgarischen Dirigenten, die Professorenschaft der deutschen Universität besteht hauptsächlich aus Bulgaren, und dann gibt es noch den Stockhausen-Preisträger und das Bulgarische Kulturinstitut. Und wenn es um osteuropäische Intellektuelle geht, gibt es außerdem verdammt noch mal mich.

Der Spiegel-Mann schreibt sich alles auf und meint auch, dass ich unbedingt in seinen Bericht rein muss: „In 20 Minuten kommt der Fotograf und macht die Fotos von Ihnen.“ Scheiße! Ich ziehe schnell eine Hose an und suche nach einem sauberen Hemd. Gleichzeitig gucke ich weiter MTV. Die bekackte Jugendkultur. Die dicken schwarzen Männer tanzen immer noch um den Baum.

Der Fotograf heißt Karsten und will mich in der Menschenmenge fotografieren. Das ist das Lieblingsklischee für die Darstellung des osteuropäischen Intellektuellen: ein Fremder, doch irgendwie ein Mensch wie du und ich. Ich muss 23-mal die Schönhauser hin und her laufen. Und es klappt immer noch nicht. Die Menschenmenge erkennt sofort den Mann mit der Kamera und rennt auseinander. Schließlich ändert Karsten seine Taktik. Er versteckt sich in der Menschenmenge und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Dabei wird ihm sein Handy geklaut.

Nach zwei Stunden bin ich wieder zu Hause. Auf MTV gehen Beavis und Butthead ins Kino. O.k. Jungs, ich bin wieder da. Es kann losgehen: Jugendkultur also. Ich und Beavis und Butthead gucken einen Clip von Prodigy an. Irgendetwas ist da mit einem Koffer passiert, er rollt runter zum Fluss, und acht verschwitzte Schwuchteln rennen ihm hinterher. Sie fallen dann alle in den Fluss, Ende der Geschichte. Die dicken Schwarzen tanzen wieder um den Baum. Der eine von ihnen verblutet. Warum springt er so rum, fragt Butthead. Ich weiß nicht, sagt Beavis, vielleicht hat man ihm den Bericht aus dem Spiegel spezial über die osteuropäischen Intellektuellen in den Arsch gesteckt. HAHAHA! Und angezündet. HIHIHI.

Das Telefon klingelt. Jemand aus der Multi-Kulti-Redaktion des SFB ruft an und erzählt, dass heute Abend im Arsenal der erste sowjetische Science-Fiktion-Film gezeigt wird: „Aelita“ aus dem Jahre 1924. Ich soll darüber berichten und unbedingt O-Töne liefern. Das Aufnahmegerät und ein Mikro liegen schon bereit beim SFB. Ich muss sie nur abhohlen. Am Kaiserdamm. Der Rundfunkredakteur führt sich auf wie ein bissiger Hund – Widerstand ist zwecklos.

Die 45 Minuten in der U-Bahn widme ich mich der Jugendkultur. Mir fällt nichts ein. Ärgerlich, ich habe zu diesem Thema gar nichts zu sagen. Der Junge gegenüber blättert in einer Zeitschrift und grinst. Das ist es! Die Jugendkultur! Ich setze mich zu ihm. Was liest du da Schönes, Junge? Einen Ikea-Katalog.

Der Film im Arsenal beginnt um 19 Uhr. Zehn vor bin ich schon im Zuschauerraum. Ich setze mich in die dritte Reihe, genau gegenüber dem großen Lautsprecher und bereite alles für die Aufnahme vor. Um 19 Uhr beginnt der Film. Er handelt von einer Revolution auf dem Mars. Der Herrscher vom Mars ist mit einem Glasmesser bewaffnet und rennt einer jungen Frau mit wackelndem Arsch hinterher. Die Frau macht den Mund auf. Daraus sollen jetzt die Hilfeschreie kommen, aber mein Mikro halte ich vergeblich in die Luft. Der Film ist stumm. Und zwar so stumm, wie es nur russische Stummfilme aus dem Jahr 1924 sein können. Eine peinliche Situation. Im Saal herrscht Friedhofstille. Ich nehme meine Sachen und gehe vorsichtig raus, das Mikro in der Hand. Im Foyer werde ich von Mitarbeitern des Arsenals ausgelacht. Diese Schweine! Sie hätten ja so tun können, als wäre nichts passiert.

Auf dem Weg nach Hause denke ich wieder über die bekackte Jugendkultur nach. Die Jugendlichen in der U-Bahn sehen für mich alle aus wie Beavis und Butthead. Zu Hause – MTV. Björk zeigt mit dem Finger auf ein dickes Buch. Das soll wohl heißen: Extra für diesen Clip hat Björk lesen gelernt. Drei Literaturredakteure haben mit Björk drei Monate lang gearbeitet. Tolle Leistung. MTV hat also auch Redakteure. Gut, dass sie mich nicht anrufen. Ich telefoniere wieder mit meinem Zeitungskulturredakteur: Will er eine ernsthafte Untersuchung über die Jugendkultur haben? Beschiss! Er meinte die Judenkultur, nicht die Jugendkultur. Ich gehe heute noch saufen. Das war ein verlorener Tag. Wladimir Kaminer