Persönlichkeitsspaltung in der Plastikhülle

Nach der Ära Peymann hat das Wiener Burgtheater mit Klaus Bachler einen ebenso neuen wie einheimischen Intendanten bekommen. Zum Einstand ließ er Calderóns „Tochter der Luft“ unter Frank Castorfs Regie auf Stundenlänge schrumpfen  ■   Von Cornelia Niedermeier

Wieder ist eine Ära beendet. Wieder gibt es den Neuen. Und wieder erhofft sich so mancher, dass, wenn schon nicht alles anders, doch so manches besser werde. Im Burgtheater heißt der neue Intendant Klaus Bachler. Und mancher altgediente Abonnent registrierte denn auch mit Genugtuung die Tatsache, mit Bachler nach dem Piefke Peymann einen Einheimischen im Direktoriumssessel sitzen zu wissen. Einen Steirer, um genau zu sein. Zudem einen Theatermann, der die Karriereleiter im Wesentlichen im Inneren der Wiener Stadtgrenzen erklommen hatte: Fünf Jahre lang war der ehemalige Schauspieler als Intendant der Wiener Festwochen verpflichtet, bevor er in den vergangenen drei Spielzeiten die Volksoper leitete. In beiden Fällen hatte sich Bachlers Intendanz weniger durch eine klar festlegbare Handschrift ausgezeichnet als durch die Akkumulation anerkannter Regiegrößen – mit einem feinen Hang zur sanktionierten Provokation. Statt bahnbrechender Neuentdeckungen bot Bachler – keineswegs zu verachtende – ästhetisch innovative Qualität.

Insofern ist es durchaus bezeichnend für den neuen Burgtheater-Intendanten, dass er seine erste Spielzeit mit einer Inszenierung Frank Castorfs eröffnete, der mit der Nestroy-Adaptation „Krähwinkelfreiheit“ und den phänomenalen „Dämonen“ – einer Koproduktion der Festwochen mit der Volksbühne – bereits zweimal in der (alten) Burg zu Gange war. (Wenngleich Castorf nun für die erkrankte Andrea Breth einsprang.)

Im Burgtheater wollte am Sonntag trotzdem keine allzu ausufernde Aufbruchstimmung aufkommen. Auf den Samtsesseln die alten Gesichter, vorne der alte Samtvorhang: Bühne frei nur für die „Tochter der Luft“. Erdacht von Calderón, geschätzt von Goethe, verändert und gekürzt von Enzensberger, weiter verändert und weiter gekürzt von Castorf – gespielt schließlich von Corinna Harfouch. Enzensbergers Neufassung verdichtet Calderóns auf zwei Abende angelegtes, zweimal fünf Akte langes Monsterdrama auf Abendlänge, rafft die ersten fünf Akte zu einem Vorspiel. Semiramis, Kind einer Vergewaltigung, verbringt ihre Jugend eingesperrt wie ein Tier. Befreit, herrscht sie, wie sie beherrscht wurde: mit Gewalt. Macht ist Freiheit. Ein Volksaufstand erzwingt die Regentschaft ihres Sohnes, der ihr äußerlich gleicht, innerlich – die reine Milde – ihren Gegenpol verkörpert. Sie, die ihn ihrerseits zeitlebens eingekerkert hatte, überwältigt ihn erneut, um aufgrund der optischen Ähnlichkeit in seine Rolle zu schlüpfen, in der sie schließlich umkommt, durch Gewalt, den Fluch ihrer Geburt erfüllend.

Persönlichkeitsspaltung, Gewaltmotivation, patriarchale Unterdrückungsmechanismen ... Enzensbergers Versdrama lässt unzählige Deutungen zu. Castorfs Inszenierung dann noch mehr. Entgegen der verblüffenden ästhetischen Geschlossenheit der „Dämonen“ zerfällt der Abend – nicht zuletzt aufgrund des inhomogenen Schauspielerensembles (das teilweise wohl noch von Andrea Breth zusammengestellt worden war) in unterschiedlichste ästhetische – und inhaltliche – Einzelmomente. Da spielt Corinna Harfouch im Vorspiel, das Castorf auf eineinhalb Stunden dehnt, das geschundene Tier, die Frau als Opfer, gefangen im luftleeren Raum einer Plastikhülle. Da werden szenenweise die Verse artig geburgtheatert, schleppend, von des Hauses Mimen, dazwischen – befreiend, energetisch, leicht – zwei Castorfsche Slapstickkünstler: die Patriarchen als Castorf-Doubles, Johannes Terne und Gerd Böckmann. Branko Samarovski dagegen: ganz liebenswerter Komödiant. Da dreht sich Hartmut Meyers Bühne, schließt hohe graue Wände, öffnet steile rote Schrägen, grüne Rutschen, schwarze enge Verliese mit Glühbirne. Gieriger Tango auf der Schräge, Klavier, ohrbetäubende E-Gitarre. Pause. Dann die restlichen Vierfünftel des Stücks in einer Stunde. Harfouch, weiterhin gequälte Tier-Frau, Opfer. Ihr Sohn, das Volk: Schwarze, in Anzug, mit Rasta-Locken; sie, die ihn doubelt, mit Perücke. Zuletzt die Frage: weshalb. Weshalb? Zugegeben: keine Ahnung. Eine gelungene Inszenierung – als Ganzes wohl kaum. Nur: die Frage relativiert sich im Laufe des Abends, wie so oft bei Castorf. Verblüffend die Intensität, in der verschiedene Schauspielstile, Körperlichkeiten, Spannungszustände, Stimmungen, Rhythmen koexistieren, einander in ihrer Eigenart akzeptieren. Und immer wieder Momente: losgelöst, allein, kindlich, absolut. Vollkommen losgelöst von jeglicher Intendantenära.