: Addieren, ganz ohne Gehirn
Rüdiger ist Rentner, verbringt seinen Lebensabend im Biebertal. Gearbeitet hat er nur einen Tag. Aus dem Alltag eines Blutegels in Deutschlands einziger Zuchtanstalt ■ Von Maike Rademaker
Einer von ihnen bekam einmal den Namen Rüdiger. Nicht nach dem kleinen Vampir, sondern nach dem Überlebenskünstler Rüdiger Nehberg.
Es war auf einer Messe, am Stand des Zoologen Manfred Roth. Ob man Blutegel denn essen könne, soll Nehberg Roth gefragt haben. Schließlich seien Regenwürmer ja auch schmackhaft. Getan hat Nehberg es dann aber doch nicht. Aber Rüdiger, zu der Minute noch namenlos, durfte mal probieren. Etwas Nehberg, frisch vom Unterarm sozusagen. Rüdiger robbte voran, biss, schluckte und bekam seinen Namen.
Von der Messe wurde der prominente Egel dann, sorgsam gehütet, nach Hause gefahren und in den Teich für gebrauchte Egel gesetzt. Da wird er wohl noch ein Weilchen leben, Blutegel werden immerhin bis zu 25 Jahre alt. Welcher der flinken Rentner in dem kleinen Waldteich nun ausgerechnet Rüdiger ist, weiß keiner. Schließlich sieht jeder Hirudo medicinalis officinalis oder „Ungarische Blutegel“ gleich aus – ein ausgewachsen bis zu 20 Zentimeter langer Wurm mit Ziehharmonikahaut, weicher grüngelber Bauch, auf dem Rücken gezackte orangene und grüne Streifen, zwei Saugnäpfe, einer vorne zum Fressen und einer hinten zum Festhalten und Hoppeln.
Das Zuhause von Rüdiger und fünfzig- bis achtzigtausend seiner Verwandten ist das Biebertal in Hessen, ganz in der Nähe von Gießen. Inmitten sanft geschwungener Hügel, nahe Wäldern und Bächen betreibt hier das Zentrum für Arbeit und Umwelt Gießen (ZAUG) die einzige deutsche Zuchtanstalt für Blutegel.
Mit Ruhe und Geduld setzt der Leiter der Zuchtanstalt, der 52-jährige Zoologe Manfred Roth, hier seinen Besuchern und ihrem Ekel Geschichten und Wissen entgegen. Auf einem der Schreibtische in den Büroräumen steht ein sorgfältig verschlossenes Glas mit Wasserpflanzen und einigen Egeln, die sich behaglich im Licht der warmen Lampe aalen und vom Rücken auf den Bauch drehen. In Roths Arbeitszimmer stapelt sich Papier, steht ein Mikroskop, ein Computer, Musik-CDs, naturwissenschaftliche Bücher, aber auch Goethe und Nietzsche – die sich beide schon mit Blutegeln befasst haben. Arbeitschaos. Vom Fenster aus kann Roth in die Talsenke blicken, wo das Gewächshaus mit seinen Schützlingen steht. Das tut er oft, während er redet – so als könne er dieses Misstrauen in den Augen seiner Gegenüber nicht mehr sehen. Sich für Blutegel begeistern. Wer tut das schon?
Dabei hat er doch gerade erst wieder einen Beweis für die Nützlichkeit der Teichbewohner da draußen bekommen. Amerikanischen Forschern ist es gelungen, Blutegel-Nervenzellen mit einem Computer zu verbinden. Der Computer schickte Signale an die Zellen, die daraufhin korrekt eine Addition vollzogen. Der Versuch gilt als erster Schritt zum „schlauen Computer“, der selbstständig nach Problemlösungen sucht. Manfred Roth spricht von den Visionen des Science-fiction-Schriftstellers Stanislaw Lem, und ein bisschen Stolz schwingt in seiner Stimme mit, wenn er diesen Bericht wiedergibt – dass seine Tiere sogar addieren können. Dabei haben sie nicht einmal ein Gehirn.
Hirudo medicinalis officinalis, wie er in Biebertal gezüchtet wird, ist nur einer von 3.000 existierenden Egelarten. Neben dem Blutegel gibt es beispielsweise auch noch Fischegel, Pferdeegel und Austernegel. Der auf Säugetierblut spezialisierte Egel ist aber, weil er seit über 2.500 Jahren für medizinische Zwecke eingesetzt wird, mit Abstand der bekannteste. Sein Ruhm hat den Hirudo im vergangenen Jahrhundert fast das Überleben gekostet – nach immerhin 650 Millionen Jahren, die es Blutegel mindestens schon gibt. Außer gegen Krankheiten, hieß es damals, habe eine Blutegeltherapie auch stimmungsaufhellende Wirkung. Also setzten sich die betrübteren Geister dieser Jahre bis zu hundert Egel auf einmal an und kreierten damit das „Jahrhundert des Vampirismus“. Milliarden Egel kostete der Wunsch nach guter Laune das Leben, seinesgleichen wurde fast ausgerottet – abgesehen davon, dass es auch den ein oder anderen Nutzer umbrachte. Der deutsche Blutegel, Hirudo medicinalis medicinalis, wird wegen seiner Seltenheit heute vom Washingtoner Artenschutzabkommen geschützt. In heimischen Gewässern von Blutegeln überfallen zu werden, wie es in dem Film „Stand by me“ so schön zu sehen ist, ist seitdem mehr als unwahrscheinlich. Es sei denn, man fällt in einen der Biebertaler Teiche.
Neue Erkenntnisse und damit die Angst vor Infektionen sorgten dafür, dass der damalige Raubzug gegen die kleinen Sauger endete. Zwar wurde der Egel hier und dort noch genutzt, aber er hatte bis in die Siebzigerjahre ein denkbar schlechtes Image. Egel sind eklig. Dabei stammt das Wort Egel von dem griechischen Wort „echis“, kleine Schlange.
Ein leichter Schlag ins Wasser in einen der Biebertalschen Teiche – schon wieseln dutzende der kleinen Schlangen ans Ufer, hasten, rempeln, robben hoch auf dem feuchten Sand. Merken sie, dass sie gefoppt wurden, trotten sie wieder zurück ins Wasser, Saugnapf für Saugnapf. Da geht es dem Egel nicht anders – Wandern im Sand ist beschwerlich, eine Abdeckung also nicht notwendig. Anderswo, in einem Aquarium oder einem Futterbassin, dagegen sehr wohl. Egel winden sich durch das kleinste Loch – und vertrocknen, wenn sie nicht rechtzeitig gefunden werden. Einmal sind in Biebertal 30.000 abgehauen, weil die elektrische Absperrung eines Beckens nicht funktionierte. Da hatten die Mitarbeiter der Zuchtanstalt die große Not beim Einsammeln – und auch ein paar schlechte Träume, wie Manfred Roth zugibt.
Seit einigen Jahren, seit natürliche Heilmittel sich wieder großer Beliebtheit erfreuen und herausgefunden wurde, dass Egel praktisch sterile Wunden hinterlassen und keine Krankheiten übertragen, dürfen Egel wieder schröpfen – bis zu zehn pro Sitzung. Schmerzhaft ist die Prozedur nicht: Mit winzigen Zähnen raspelt sich der Egel durch die Haut und injiziert gleichzeitig 15 Stoffe, darunter ein Betäubungsmittel, damit sein Wirt ihn nicht sofort in hohem Bogen abschleudert, und Hirudin, das die Blutgerinnung stoppt. Um satt zu werden, braucht der Sauger eine halbe bis zwei Stunden, dann lässt er sich abfallen. So ein Egel kann bis zu 40 Milliliter Blut saugen, das heißt das Drei- bis Vierfache seines Eigengewichtes. Durch das gerinnungshemmende Hirudin blutet die Wunde noch bis zu 12 Stunden nach.
Den satten Egel sieht dann so schnell keiner wieder: Da er nur sehr langsam verdaut, kann er bis zur nächsten Mahlzeit mehr als ein Jahr warten. Kann. Der kleine Hunger zwischendurch ist auch dem Egel nicht fremd, sagt Manfred Roth.
Egel sind Spezialisten für Blutstaus – und das wird ausgenutzt. Von Unfallchirurgen etwa. Die können, wenn sie einen abgerissenen Finger wieder annähen, zwar die dicken Arterien gut verbinden, schlecht jedoch nur die feineren Blutgefäße, die schnell verstopfen. Wird ein Egel an die Wunde gelassen, fließt das Blut wieder. Heute werden Egel bei Thrombosen, Arthritis, Rheuma und selbst bei Tinnitus und Depressionen eingesetzt – allein in Deutschland rund 400.000 Stück im Jahr.
Die Renaissance der Egeltherapie ist der Grundstein für die Zucht in Biebertal. Manfred Roth und seine Mitarbeiter züchten allerdings nicht jeden Egel selbst – die Aufzucht kleiner Egel ist kompliziert. Gerade einmal zehn Prozent erreichen das marktfähige Alter. Kleine Egel haben nämlich eine schlechte Angewohnheit: Kannibalismus. „Wandernde Blutbahnen“ nennt Roth vollgesaugte Egel, die anderen als Futter dienen. „Da nicht alle Egel schnell an ein Opfer kommen, wenn mal eines durchs Wasser läuft, werden sie über diesen Kannibalismus versorgt.“ Kann man doch verstehen. „Wann kommt in der freien Wildbahn schon mal ein Hirsch vorbei? Wegen dieser Selbstversorgermentalität importiert die Zuchtanstalt ihren Nachwuchs überwiegend aus dem Ausland.
Rüdigers Leben hat daher wohl nicht im Hessischen begonnen, sondern in der Türkei, in Indien und Griechenland, wo ebenfalls Egel gezüchtet werden. Rumänien, das wär's, sagt Roth. Da hätte er zu gerne Nachwuchs her, aus der Heimat Draculas. Doch leider: „Die lassen keine raus.“ Das wäre mal ein Werbespot: der Sauger aus Transsylvanien.
Wasserpest und gelbe Seekannenblumen, am Rand Schilfbüschel. Eine Pumpe sorgt für sauberes Wasser – dass Egel gerne in trüben Tümpeln leben, ist nicht wahr. Trotzdem, rät Roth, ist es besser, keine Egel in die Toilette zu werfen, wie es wohl Ärzte schon getan haben. „Die Egel kommen wieder.“ Und: Egel halten sich nicht nur im Wasser auf, sondern können sich auch sehr schnell an Land weiterbewegen – überall da, wo sie ihre Saugnäpfe einsetzen können. Auch an glatten Porzellanwänden.
Bis zu zwei Jahre hat Rüdiger, der Südländer, dieses Leben wohl in den Tümpeln genossen. Entstanden ist er aus einem kleinen Eierkokon, wie sie auch hier in Biebertal unter der Folie kleben und die aussehen wie ein aufgeblühtes Weidenkätzchen. Wovon er die ersten Monate gelebt hat, weiß keiner – es ist noch nicht erforscht, was der stecknadelgroße Egelnachwuchs isst, Blut ist es jedenfalls nicht. In Biebertal angekommen, kam er erst einmal in Quarantäne, dann harrte er in einer der idyllischen Wasserbahnen im tropisch-heißen Gewächshaus im Biebertal aus. Zwischendurch gab es auch mal was – ökologisch korrektes Demeter-Schweineblut. Rinderblut kommt nicht in Frage, sagt Manfred Roth, – die Kunden fürchten BSE. Reines Zugeständnis an die Kunden und ganz und gar unnötig, meint Zoologe Roth. „Egel können kein BSE übertragen. Schließlich injizieren sie ja kein Blut, sondern nehmen es.“
Irgendwann kam Rüdiger dann auf die Messe, zu der denkwürdigen Begegnung mit Nehberg. Und Nehberg ist, das ist damit bewiesen, kein Diabetiker. Deren Blut mögen Egel nicht, ebensowenig wie ätherische Öle auf der Haut oder Nikotin. Die Frage ist allerdings, ob Rüdiger zu dem Zeitpunkt überhaupt ein Rüdiger war. Blutegel sind nämlich „protandrische Zwitter“: Sie werden als Männchen geboren, verwandeln sich in Zwitter und enden als Weibchen. Was heißt, dass keine Egelin jemals was mit einem älteren Egel hatte.
Manfred Roth steht am Rentnerteich, irgendwo da unten schwimmt Rüdiger. Nach dem Schröpfen werden die Egel häufig umgebracht, sagt Roth. Wegen eventueller Infektionsgefahr. Nicht alle Ärzte und Patienten bringen das jedoch über sich, sagt der Zoologe und freut sich. Ist ja auch nicht schön: Erst sich mit dem Egel anfreunden, sich helfen lassen und dann zuzusehen, wie das Tier in Essigsäure gelegt unter Zuckungen das Blut erbricht und stirbt. Deshalb hat die Zuchtanstalt einen Rücknahmeservice eingerichtet. Altegel können zurückgeschickt werden ins Biebertal.
Zu Rüdiger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen