Die Störche gehen, die Kälte kommt

Die jungen Autoren des osteuropäischen Theaters erzählen auf den Festwochen noch einmal die alten Geschichten und stochern in nationalen Mythen. Alles beginnt mit der Frage: „Wer war dein Vater?“  ■    Von Esther Slevogt

Die Bühne ist dämmrig und die Gestalten, denen man dort begegnet, sehen aus, als hätten sie zu lange unter Tschechow-Figuren gelebt. Doch es sind deutsche Bürger mit blumigen deutschen Namen: Zeitblom, Deutschlin, Schweigestill und vor allem Leverkühn. Der Regisseur des Abends ist gerade dreißig, und das abgeklärte Berliner Festwochenpublikum blickt einigermaßen entgeistert auf den bürgerlichen Totentanz, den Grzegorz Jarzyna und das Teatr Polkski aus Wroclaw ihm da im Hebbel-Theater mit einer Bühnenversion von Thomas Manns „Dr. Faustus“ bietet: Blasse, bildschöne Morphinistinnen, satte Bürger und im Mittelpunkt ein syphilitischer Künstler, der mit dem Teufel im Bunde ist (erstaunlich gesund aussehend: Jan Frycz). Ein Grammophon schnarrt Schubert-Lieder. Vom Band tönt Bachs Johannes-Passion oder Beethovens Sonate Nr. 11, und zwischendurch faseln feiste Bürger über Humanismus und die animalische Wärme der Liebe.

Mittendrin Adrian Leverkühn, der Künstler, der für seine Fähigkeit zu komponieren dem Teufel seine Fähigkeit zu lieben opferte. Für Thomas Mann Symbol und Inbegriff des Irrwegs der Deutschen. Für Jarzyna Gegenstand relativ distanzloser Faszination über das Dämonische im dunklen Deutschen. Vom Erlkönig bis zum Rassenwahn – wie gehabt ein Rutsch. Im Hintergrund fallen schon die Bomben wie Schneeflocken herab.

Man wird wohl damit leben müssen, dass die postkommunistischen Länder Osteuropas noch eine Weile in nationalen Mythen und alten Geschichten herumstochern werden, auf der Suche nach sich selbst: Die Frage nach dem Verhältnis zu den Vätern war zentral in den auf den Festwochen vorgestellten Stücken aus Osteuropa, und sie wurde fast ausschließlich von jungen Regisseuren und Autoren gestellt. Aus Tschechien kommt das Stück des 1970 geborenen Roman Sikora „Antigone weggefegt“ und handelt von einer jungen Generation, die sich in den neuen Spielregeln der Freiheit nicht zurechtfindet. Unbestimmes Unbehagen empfindet gegen die neue Konsumhaltung der Gesellschaft, aber deren Kritik letztlich ohne klare Orientierung ist. Dann sind da die vier elternlosen Brüder in einem Stück des kroatischen Schauspielers und Dramatikers Filip Sovagovic (Jahrgang 1966) „Cigla“. Levi, der Älteste, ist schon 47 Jahre alt. Seine Identität wurzelt irgendwo zwischen den Beatles und Berija, Stalins gefürchtetstem Schergen: „Was soll ich mit dem Staat?“, schreit er, „ich will eine Frau!“ Sein jüngster Bruder Cigla wäre noch jung genug, um die Kurve zu kriegen. Aber dann kommt der Krieg. Cigla wird Soldat und kommt als Verrückter aus dem Krieg zurück. Eines Tages ist er verschwunden. Die, die schon zu alt waren, um das Neue an der neuen Zeit zu nutzen, bleiben resigniert zurück.

Auch das Stück der estnischen Autorin Merle Karusoo (Jahrgang 1944) „Die Störche gehen, die Kälte kommt“, handelt von der Orientierungslosigkeit der Menschen in der neuen Gesellschaft. Vierzehn Lebens- und Liebesgeschichten werden erzählt. Die älteren Figuren sind bereits Großeltern, und alle haben estnische Geschichte sprichwörtlich am eigenen Leibe erfahren. Zander zum Beispiel als Liebesschüler einer zur Armeeprostitution gezwungen jungen Frau, dann als arischer Zuchthengst der Nazis. Oder Oie, deren acht Brüder in sowjetischen Gulags umkamen und die lebenslanges Opfer eines prügelnden Ehemannes war. Aber, und das ist die etwas zwiespältige Moral dieses Stückes, der Verlust der Heimat, die Deportation durch die Sowjets, der Terror der Nazis, all das hinterließ nur Blessuren in den estnischen Seelen, keine wirklichen Schäden. Erst für Helena, kaum zwanzig Jahre alt, wird der enthemmte Freiheitsbegriff der neuen Zeit zur Katastrophe: Sie wird sooft vergewaltigt, dass sie am Ende den Verstand verliert.

Auf dem Weg in die Zukunft lauern die Fallstricke der Vergangenheit. Wie Schlingpflanzen überwuchern vermoderte Stricke die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo das Litauische Nationaltheater mit Sigitas Parulskis (Jahrgang 1969) „P.S. Akte OK“ gastierte. Durch sie stolpern die Figuren, finden keinen Halt, stürzen in einen Abgrund, der sich dazwischen auftut oder werden unter ihnen begraben. Hunderte von weiße Stricken hängen auch vom Schnürboden herab. Die Drehbühne setzt sich in Gang, und mit ihr geraten umgestürzte Grabsteine und andere Vergangenheitstrümmer in Bewegung. Die herabhängenden Stricke verwirren sich. Regisseur Oskaras Korsunovas (Jahrgang 1969) hat sehr suggestive Bilder für den mörderischen Kampf des Alten mit dem Neuen gefunden. Alles beginnt mit der Frage: „Wer war dein Vater?“ Über diese Frage geraten ein paar junge Männer in eine Schlägerei. Einen von ihnen führt diese Frage schließlich zum Vatermord. Die schwerblütigen Texte in „P.S. Akte OK“ waren nicht immer gut verdaulich. Aber man musste der deutschen Übertitelung gar nicht folgen, um sich von der Aufführung mitreißen zu lassen.