Wer ist schuld an der Pest?

Ein ungewöhnliches Theaterprojekt über die Geschichte von tausend Jahren Flucht und Asyl. Junge MigrantInnen und Deutsche, alles Laienschauspieler, proben und recherchieren für die Premiere   ■  Von Veronika Kabis-Alamba

Prolog: Eine Stadt feiert sich. Saarbrücken, eintausend Jahre alt. Mit Kaiser Otto III. fing es an, im Jahre 999 verfügte er die Schenkung der Burg Sarabruca an den Bischof von Metz. Damit verbunden der Aufruf, Schutzsuchenden in dieser Burg Zuflucht zu gewähren.

Tausend Jahre Saarbrücken, tausend Jahre Asyl. Die Idee zu einem Theaterprojekt ist geboren. Das Besondere daran: Für die beteiligten Jugendeinrichtungen sind Flucht und Asyl nicht bloße Historie und abschaltbare Fernsehbilder, die Beschäftigung mit Migrationsfragen ist vielmehr Teil ihres Arbeitsalltags. Das Jugendcafé „Exodus“ und das „Theater im Viertel“ haben seit Jahren immer wieder Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durchgeführt. Für den Deutsch-Ausländischen „JugendClub“, den Dritten im Bunde, liegt das Thema noch näher: Ein Großteil seiner Klientel sind Flüchtlinge und AsylbewerberInnen, darunter auch viele unbegleitete Minderjährige. Fast zwanzig MigrantInnen und Deutsche, viele sind Binationale, haben sich zusammengefunden. Ein fester Kern von zehn probt bereits regelmäßig. Zu tun gibt es auch für die anderen genug, denn alles wird selbst gemacht: Recherche, Textbuch, Inszenierung.

„Schauspieltraining kann jungen Menschen helfen, mit verschiedenen Selbst zu experimentieren – die schüchternen können selbstbewusster werden, die hysterischen gelassener. Das unterstützt den Reifungsprozess und wirkt therapeutisch“, erklärt Ingrid Braun, die Projektleiterin und Regisseurin, ihre Arbeit. Die Schauspielerin hat in den letzten Jahren, wenn sie nicht gerade selbst Theater spielte oder an der Seite von Jochen Senf alias Kommissar Palü einen „Tatort“ drehte, bereits mehrere Theaterprojekte geleitet. So hat sie schon einmal bundesweit für Aufsehen gesorgt mit der Produktion „Gestern war heute noch morgen“, bei der sie jugendliche MigrantInnen und deutsche Neonazis in Freiburg gemeinsam auf die Bühne brachte. Was diesmal anders ist, sind nicht nur Thema und Zusammensetzung der Truppe, sondern auch die Fülle an historischem Material, das es zu verarbeiten galt. Die wechselhafte Geschichte der saarländisch-lothringischen Grenzregion stellte eine echte Herausforderung für die Recherchegruppe dar, die wochenlang in Bibliotheken und Archiven stöberte. Berge von Literatur sind dabei zusammengekommen über die Zeit der Edikte von Nantes und Fontainebleau, als Saarbrücken mehrfach zur Zufluchtstätte für Hugenotten wurde, den Dreißigjährigen Krieg, die Französische Revolution. Nicht zuletzt über das Dritte Reich, als das Saarland für Emigranten und Widerstandskämpfer kurze Zeit rettendes Ausland war. In allen Epochen ist die Recherchegruppe Verfolgten und ihren Verfolgern begegnet: vermeintlichen Hexen, von Inquisitoren dem Feuer preisgegeben, Schuldigen an der Pest, von den Schergen der Fürsten aufs Rad geflochten. Fremde, Eindringlinge – damals wie heute dazu prädestiniert, die Rolle der Sündenböcke und angeblichen Brunnenvergifter einzunehmen.

Erste Szene. Sarabruca, um 1200. Hängen wollte man sie, da sie ihre Steuern nicht bezahlen konnten; in letzter Minute ist das Bettlerpaar den Häschern entkommen. Hoffnung keimt in ihnen auf, als sie vor den Toren Sarabrucas anlangen. Doch zu spät, die Soldaten holen sie ein. Sie haben nichts mehr zu geben – bis auf den Säugling auf ihrem Arm. Markerschütternd ist ihr Schrei, als die Bettlerin die Absicht in den Augen der Soldaten erkennt.

Shirin und Phillip haben die Szene im dritten Anlauf so überzeugend gespielt, dass alle einen Moment lang verstummt sind. Doch nur kurz, denn als Raphael hinreißend einen der Gaukler mimt, die die Zuschauer durch die Jahrhunderte begleiten, ist die Stimmung auch bei Johanna, Agnes und Iggi schnell wieder ausgelassen.

Sechste Szene: Saarbrücken 1999. Inzwischen sind alle Handlungsstränge entwickelt, das Team hat sich an die Gegenwart herangetastet. Jugendliche Flüchtlinge liefern biografisches Material, aktuelle Ereignisse bilden die Kulisse. Qazim aus dem Kosovo hat Ingrid Braun seine Geschichte erzählt. Vor vier Jahren haben ihn seine Eltern auf die Flucht nach Deutschland geschickt. Kurz darauf wurde sein Vater, ein Professor, verhaftet und wegen politischer Aktivitäten zu einer Haftstrafe verurteilt. Qazims Traum, Medizin zu studieren, ist vorläufig geplatzt. Aussichtsloses Asylverfahren, jahrelanges zermürbendes Warten auf eine Chance zur Rückkehr, dann der Krieg. Ein Alptraum, das wochenlange Warten auf Nachricht von der Mutter und der Schwester. Nein, spielen wollte er seine Geschichte nicht. Wie kann er etwas auf die Bühne bringen, was ihn selbst, wie er sagt, um den Verstand bringt? Aber er war bereit, den Theaterleuten seine Biografie zu leihen, ein anderer wird in seine Rolle schlüpfen. Die Wirklichkeit hat das Textbuch inzwischen auf dramatische Weise eingeholt. Vor wenigen Tagen hat Qazim erfahren, dass sein Vater während des Kosovo-Kriegs hingerichtet wurde. Er ist zurückgeflogen nach Priština, um seiner Familie beizustehen. Seine Lebensperspektive? Im Kosovo steht er vor dem Nichts, Deutschland hat ihn desillusioniert. Qazim ist gerade neunzehn geworden.

Die jugendlichen Flüchtlinge unter den ProjektteilnehmerInnen dafür zu gewinnen, selbst auf der Bühne zu stehen, hat sich trotz des über lange Zeit gewachsenen Vertrauensverhältnisses als schwieriger erwiesen als zunächst vermutet. Die meisten stecken eben noch mittendrin in ihrer eigenen Fluchtgeschichte. Das mussten die InitiatorInnen des Projekts schließlich akzeptieren. Andere wiederum wie Fatmata, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Sierra Leone, sind beim Theaterspielen richtig aufgeblüht.

Das Ende des Stücks ist noch offen. Natürlich wird es zum Schluss um Asyl heute gehen, um das, was jugendliche Flüchtlinge in Deutschland erleben. Aber da ist ja auch alles offen, vom Recht auf Asyl merken die wenigsten von ihnen etwas. Die Angst vor Abschiebung kennen einige dagegen nur zu gut. Man darf gespannt sein, welches Ende die Geschichte von tausend Jahren Asyl auf der Bühne finden wird.

Epilog: Kommt nun der moralische Zeigefinger? Gewiss nicht, denn das Stück will, so wie es konzipiert ist, nicht belehren. Weder badet es die Zuschauer in Betroffenheitslyrik noch erinnert es an peinliches Anti-Rassismus-Theater. Die Faszination liegt im spürbaren Prozess der Entwicklung von Geschichten vor geschichtlichem Hintergrund, der Gestaltung von Charakteren und in der einmaligen Erfahrung des Rollentauschs. Und nicht zuletzt einfach darin, dass hier eine Reihe von Jugendlichen trotz des schweren Stoffs mit unverkennbarer Lust und Begeisterung zusammen Theater spielen.

Premiere am 14. 10. 99, um 19.30 Uhr im Saarbrücker Theater Überzwerg. Weitere Aufführungen am 15. und 16. 10. Infos unter Tel.: (0681)33275.