Ein gutes Zehntel Leben

■  Die Langzeitdokumentation „Ein anderes Land – fünf Geschichten nach der Wende“ beobachtet fünf Schicksale über neun Nachwendejahre (22.35 Uhr, West 3)

Es wird sichtbar, mit welcher Wucht die Wende jeden einzelnen politisch und ökonomisch getroffen hat

„Wissen Sie, wenn man jetzt so eine Beziehung eingeht, nicht wahr, irgendwo ist es ein anderes Land gewesen. Die sind anders groß geworden als wir. Wir haben keine Gemeinsamkeiten.“ Mit diesen Worten versucht Frau Küchle (Ost) das Scheitern ihrer im Jahr der Währungsunion gestifteten Ehe mit Herrn Brattig (West) zu erklären. 1990 ließ sich der Sparkassenangestellte aus dem Rheinland nach Strasburg, einer kleinen mecklenburg-vorpommernschen Stadt zwischen Neubrandenburg und Pasewalk versetzen. Er wollte Pionier sein, in der Bank bei der Umstellung auf Weststandard helfen. Seine Geschichte ist eine von fünf, die Fredo Wulf und Quinka F. Stoehrin in ihrer Langzeit-Dokumentation „Ein anderes Land“ langsam und behutsam erzählen.

Neun Jahre sind kein Pappenstiel, das ist ein Zehntel eines langen Lebens. In einem solchen Zeitraum verändert sich auch ohne große Umbrüche viel im Leben eines Menschen. Das Leben der fünf Ost- und Westdeutschen, die dieser Film zeigt, wird aber gleich zu Beginn der Dreharbeiten durch einen mächtigen Einschnitt verändert: die deutsche Einheit. Der Zusammenbruch des eigenen Staates, analysiert der Lagerarbeiter Jens Nitsch rückblickend, war eigentlich absehbar. Denn: „Wenn de dir das richtig überlegst, konnte es ja nicht gehen, mit einem Brot für 93 Pfennige, oder? War doch alles unterbezahlt. Da ham wir alles kaputtgewirtschaftet mit.“

Anders als der auch von Arbeitslosigkeit betroffene Hilfsarbeiter gehörte der Volkspolizist Siegfried Kroh zunächst zu den Wendegewinnern. Er baute das erste Autohaus in der Region auf und verkauft zunächst gut. „Dieses System hat verloren“, sagt er über seinen aufgelösten Staat, „weil die Betrüger auf unserer Seite waren. Deshalb haben wir verloren. Nur weil wir betrogen worden sind. Sonst hätte der Kapitalismus keine Chance gehabt.“

Der Einschnitt, der Fall der Mauer und die Währungsunion, verändert die Leben aller Personen dieses Films abrupt. Die Filmemacher Fredo Wulf und Quinka Stoehr, die ihre Dokumentation mit dem Tag der Währungsunion beginnen lassen, werden für alle zu Adressaten ihres Ringens nach der richtigen Beschreibung und Deutung der Zeitabschnitte, die zwischen den einzelnen Besuchen des Filmteams in Strasburg liegen.

Ohne Voyeurismus, mit offensichtlich zunehmender Sympathie und mit Fragen, die allein dem genaueren Verständnis dienen, treten die Dokumentaristen aus dem Westen den StrasburgerInnen gegenüber. Am Material ist deutlich ablesbar, wie sich mit der Zeit alle an die Zusammenarbeit gewöhnen. Die Porträtierten werden vor der Kamera Jahr für Jahr lebendiger, auch Kamera und Ton entwickeln sich und kommen immer angemessener und kunstvoller zum Einsatz.

Der Film handelt davon, wie die Menschen in Ostdeutschland mit der neuen Situation fertig werden. Wulf und Stoehr lassen einen Raum entstehen, in dem die Stimmen ihrer Protagonisten nicht als „Beweise“ oder „Belege“ für eine lange schon vorher fertige Wende-Interpretation, sondern als fünf von unendlich vielen möglichen Interpretationen lesbar sind.

Ein einheitliches Bild von „den“ Ostlern nach der Wende will sich hier nicht einstellen. Was deutlich wird, ist die Wucht, mit der die politische und ökonomische Veränderung das Leben jedes Einzelnen trifft. Während die einen zunächst oben schwimmen und den Kapitalismus für sich zu nutzen wissen (der Autohändler) oder ihre Zukunft noch vor sich haben (wie der 12-jährige Pastorensohn Chrissie, der nach der Wende erst mal genießt, nicht mehr gehänselt zu werden), klammern sich die anderen an jedes noch so kleine Stückchen Heimat. Wie Jens Nitsch, der es vorzieht, in Strasburg arbeitslos zu sein, statt woanders sein Glück zu suchen.

Am Ende machen alle Verluste. Die Geschäfte des Autohändlers Kroh gehen bald nicht mehr gut, er muss Mitarbeiter entlassen, und der Pionier aus dem Westen, Herr Brattig, sitzt schließlich als Wendeverlierer mit einem leeren Neubau und Alimenten da. Auch Jens Nitsch ist Vater geworden, und hat nun keine Wahl mehr zwischen Knochenarbeit oder Arbeitslosigkeit. Nur Frau Küchle scheint einigermaßen heil aus allem hervorgegangen zu sein. Sie klammert sich an nichts und geht doch nicht unter. Aus der Beziehung mit Herrn Brattig hat sie ein Kind und viel Wissen über die Wessis mitgenommen. Zu dem neuen Eigenheim, das ein deutsch-deutscher Neuanfang hätte werden sollen, ist es nicht mehr gekommen. Nun lebt sie in der engen Etagenwohnung, in der sie schon immer gelebt hat, und die sie wie eh und je ihr „Zuhause“ nennt. Stefanie Haake