Oldenburger Palme

Mon chou“, mein Kohl, mein Liebling, sagen die Franzosen zärtlich zum Deftigsten aller Gemüse, die Niedersachsen nennen den Grünkohl sogar ironisch „Oldenburger Palme“. Jetzt, nach den ersten Nachtfrösten, schmeckt Kohl am besten. Ein Text aus dem Appetit-Lexikon von 1894 preist den Kohl auf das Köstlichste Von Robert Habs und Leopold Rosner

Kohl ist einer der wässrigsten, aber auch der gangbarsten Artikel in Küche und Literatur, weil er, zehnmal aufgewärmt und frisch garniert, immer wieder Gläubige und Liebhaber findet. Ein Kohlgemüse auf Englisch, das heißt in Wasser gekocht, ist allerdings die denkbar gräulichste kulinarische Missgeburt und über alles im Stande, das sanfteste Gastronomengemüt auf ewig mit der englischen Küche zu verfeinden. Zur Ehre der Menschheit muss jedoch konstatiert werden, dass abgesehen von den Briten alle Nationen von der Notwendigkeit gründlicher Fettdüngung bei Kohlspeisen wissen und sie deshalb nicht vernachlässigen. Auch beim Krautsalat erachtet man die einfache Ölung nicht für ausreichend, sondern fügt ausgelassene Speckwürfel hinzu, und wer eine Kohlsuppe, einen Schmorkohl oder Braunkohl aufsetzt, der müsste sich die Augen aus dem Kopfe schämen, wenn er nicht mit allerkräftigster Fleischbrühe und je nach den Umständen mit Butter oder Schweinefett nachgeholfen hätte.

Beim Dünsten hat man daran zu denken, dass die Niedersachsen den Schmorkohl mit einem gewissen Nachdruck Par-Force“-Kohl nennen und auch gewalttätig behandeln. „Kohl muss kochen, dass ihm die Schwarte knackt“, heißt es in Westfalen, und mit Grund, denn nur auf diese Weise lässt sich seine Schwerverdaulichkeit einigermaßen ausgleichen. Ganz zu beseitigen ist sie freilich gerade beim frisch verwendeten Kohl nie, und dieser steht daher als Windmacher und Kolikenerzeuger in beinahe noch schlimmerem Ruf als selbst die Hülsenfrüchte. Abgesehen vom Blumenkohl, vom Brokkoli und vom Rosenkohl gilt das Gesagte von allen Kohlarten, und deren sind fast bedenklich viele, wie meist bei allen von uralters her gezogenen Kulturpflanzen.

Man erleichtert sich die Übersicht durch Trennung aller Sorten in zwei große Ordnungen: den Kopfkohl mit mehr oder weniger fest, aber unzweideutig um den Stamm zu einem Kopfe zusammengeschlossenen Blättern, und den Blätterkohl mit frei vom Stamme abstehenden Blättern.

An Kopfkohlarten unterscheidet man Weißkraut, Rotkraut, auch Kappus, Kappskraut in Österreich, bisweilen Häppelkraut genannt, die bekannteste Kohlart mit gewölbten, weißgrünen bis violettroten Blättern, die sich zu einem festen Kopf von beträchtlicher Größe zusammenschließen und vor allem das berühmte Sauerkraut liefern.

Im Allgemeinen wird zum Kochen und Einmachen die weiße, zum Salat die rote Spielart bevorzugt. Wirsing (Herzkohl, Blasenkohl, Welschkraut, Börsch, Wirsch) ist zarter und deshalb zu Suppen und als Gemüse beliebter als Weißkraut, noch dazu wenn er im Herbst als Begleiter eines oder mehrerer gedämpfter Rebhühner oder auch nur einer geschmorten Ente auftritt. Rosenkohl (Sprossenkohl, Brüsseler Kohl) ist eine erst Ende des 18. Jahrhunderts in Brabant gezogene Spielart mit zahlreichen walnuss- bis apfelgroßen, fest geschlossenen Blattrosetten in den Blattwinkeln, die ein ungemein zartes, wohlschmeckendes und dabei wenig blähendes Gemüse abgeben.

Grünkohl (Winter-, Braun- oder Krauskohl) ist ein treffliches Wintergemüse mit krausen, lichtgrünen bis braunen oder violettblauen vom Stamme abstehenden Blättern, deren Stärkegehalt sich unter der Einwirkung des Frostes in Zucker umsetzt und die daher erst nach erlittenem Frostschaden ihren vollen Wohlgeschmack entwickeln. In Frankreich, Süddeutschland, Österreich und ganz Südeuropa wird er weniger geschätzt, in Holland und Norddeutschland dagegen und sogar in England weiß man ihn vollauf zu würdigen. Der in Bouillon gedämpfte, mit etwas Soja und Zucker sowie mit Butter gebratenen Kastanien oder Kartoffeln vermengte und mit Mettwurst, Frankfurter Wurst, Bratwurst oder Gänsepökelfleisch belegte „lange Kohl“ der Niedersachsen ist ein Festtagsgericht, zu dem man niemandem Appetit, sondern nur einen widerstandsfähigen Magen zu wünschen braucht. Kohlrabi (in Franken Apfelkohlrabe) ist ein Stengelgemüse, das in Scheiben geschmort, mit geriebener Muskatnuss oder gefüllt und gesotten verzehrt wird, in keiner Gestalt aber besondere Begeisterung zu wecken vermag, da sein Geschmack stets fade bleibt und oft genug ins Holzige übergeht.

Sauerkraut, das Nationalgericht der Niedersachsen, wird aus fein gehobeltem Weißkraut hergestellt, indem man dasselbe unter Zusatz von Salz, Dill, Kümmel und Apfelschnitten, auch wohl Wacholderbeeren und Weintrauben, in ein Fass einstampft, der Gärung überlässt, die den Zuckergehalt des Kohls in Milchsäure umsetzt und auf diese Weise der einfachen Konserve einen eigentümlich pikanten Geschmack und Geruch mitteilt. Auf diesem eigenartigen Duft in Verbindung mit lichtblondem Teint und möglichster Feinfädigkeit beruht die Schönheit und Vortrefflichkeit des Sauerkrauts, das, roh mit Essig, Öl, Salz, gestoßenem Pfeffer und Kapern und mit Neunaugen garniert, einen überaus löblichen Salat liefert, gekocht und gedünstet aber eine der solidesten und zuträglichsten Bei- und Unterlagen abgibt, die man einem Braten, einer Gänsebrust, einem Spickaal, einem Stück Pökelfleisch oder Rauchlachs oder Bratwurst nur immer bereiten kann. Sauerkraut mit gebackenen Sardellen, Austern, Hering oder Speckbückling ist gleichfalls nicht zu verachten, wenn der Kohl nur genügend gefettet und gründlich gedünstet wurde. Auch jene etwas befremdliche Zusammenstellung von Erbsbrei und Sauerkraut, die der Niedersachse „Lehm mit Stroh“ nennt, ist durchaus berechtigt und verdient mindestens eine ehrende Erwähnung. Alle diese Gerichte zeichnen sich aber nicht bloß durch Nährkraft und Wohlgeschmack aus, sondern auch – und das ist die schönste Seite des Sauerkrauts – durch einen verhältnismäßig hohen Grad von Verdaulichkeit. Schon die Gärung lockert nämlich die zähe Kohlfaser, durch die Operation des Dünstens wird sie dann vollends windelweich, und endlich trägt die Milchsäure auch noch zur Lösung der Eiweißstoffe des Fleisches mit solchem Eifer bei, dass selbst der Schweinebraten und der Spickaal so vieler Liebenswürdigkeit nicht lange widerstehen können, sondern sich im Magen baldigst in Wohlgefallen auflösen.

Den „Theriak (die Medizin – Anm. d. Red.) unter den Speisen“, nannte Guarinoni in Prag das edle Präparat schon zu einer Zeit (um 1580), wo sein Weltruhm noch in den Windeln lag. Allerdings reicht nach dem Zeugnis des Geografen Georg Torquatus der Sauerkohlhandel Magdeburgs elbaufwärts und elbabwärts mindestens bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück. Außerhalb des Reichs gelangte die Konserve erst im 18. Jahrhundert zur Anerkennung. Frankreich akzeptierte den Sauerkohl erst, nachdem seine Soldaten während der Revolutionskriege damit vertraut geworden waren. Seitdem huldigt ihm jedoch Paris mit einer Hingebung, die in Deutschland kaum übertroffen werden dürfte.

Gekürzt und zusammengefasst aus dem wunderbaren, 1894 erschienenen „Appetit-Lexikon“ von Habs und Rosner, das vor zwei Jahren im Oase Verlag in Badenweiler neu aufgelegt wurde (582 Seiten, 68 Mark). Mit freundlicher Genehmigung des Verlags