Wirklich nette Leute

Nach 35 Jahren Provokation wechselt Genesis P-Orrige mit „Thee Majesty“ den Kanal  ■ Von Lars Brinkmann

Nichts ist normal. Und wenn, welcher normale Mensch wollte schon normal sein? Jemand, der seinen Namen legal von Neil Megson in Genesis P-Orridge ändert, setzt damit ein Signal und präsentiert sich als das, was er von Geburt an ist, als Außenseiter – nicht als Marginalisierter. Niemand kann ihn daran hindern, sich und seine Kunst zu präsentieren. Was zunächst in eine tabulose Performance-Gruppe einfloss, um sich im kurzen, anarchistischen Klima von Punk und New Wave als musikalischer Aufschrei zu artikulieren, geht heute im säuselnden Spoken Word auf. Genesis P-Orridge ist über Fünfzig und will nun nach 35 Jahren progressiver Subkulturverwesung auf Freundlichkeit umschalten. Doch wie orakelte er einst so schön: „Those who do not remember the past are condemned to repeat it.“

Bis zu den 70ern arbeitet GPO mit seiner Freundin Cosey Fanni Tutti unter dem Namen COUM Transmissions. Ihr programmatisches Versprechen: „Coum guarantees disappointment“. Mal schrabbt GPO über die Saiten einer elektrisch verstärtkten Violine, mal präsentiert sich Cosey als Pin-Up in Pornomagazinen und beschreibt das Modell stehen als „sublimal performance für das Massenpublikum“. In dem posthumen Statement Annihilating Reality resümiert GPO: „Wir stellten fest, dass die Kunstwelt in jeder Hinsicht unbefriedigender ist als das wirkliche Leben. Für jeden interessanten Performance-Künstler gab es einen Psychopathen, Fetischisten oder unbeirrbaren Individualisten von der Straße, der eine weitaus stärkere Metaphorik mit unmittelbarem gesellschaftlichem Bezug kreierte.“

Bei den folgenden Throbbing Gristle werden GPO und Cosey von Pete Sleazy Christopherson und Chris Carter unterstützt. Selbt die Punks fühlen sich provozuiert; ein Parlamentsmitglied mutmasst: „Das müssen wirklich kranke Leute sein“. Ihren Namen entleihen sie einem Kneipengespräch, in dem ein Mann von seinem „pochenden Knorpel“ erzählte. Als Ausdruck der „tagtäglichen Erfahrung vieler Menschen in einem von Massenproduktion und moderner Technik bestimmten Lebensstil“ taufen sie ihre Plattenfirma auf den Namen Industrial Records. Nicht zuletzt signalisieren sie damit, dass nach der Industriellen Revolution die Tradition des ländlichen Blues obsolet geworden ist. Folglich verzichten sie weitgehend auf klassische Instrumente und arbeiten stattdessen mit primitiver Elektronik, Tapes und merkwürdigen Unikaten, die von Sleazy und Chris gebaut werden. Ein Jahrzehnt später wird man sie in die Ahnenreihe des Techno stellen.

Als TG 1981 ihre Mission beenden, gründet Genesis mit Sleazy Psychic TV und ruft dem Temple ov Psychic Youth aus. Nach dem zweiten Album verlässt Sleazy die Band in Richtung Coil. Mit dem Brian-Jones-Tribut „Godstar“ feiern PTV ihren größten Hit; Während der ersten Acid-House-Hysterie kann Genesis noch mal mit dem Seitenprojekt Jack the Tab für kurze Aufmerksamkeit sorgen, muss sich aber – nach einer beispiellosen Verleumdungskampagne, bei der es um Vorwürfe wie „satanische Kindesmishandlung“ ging – ins Ausland absetzen. Hier wird er später zu Protikoll geben, dass es sich bei dem Temple ov Psychotic Youth nur um einen Scherz gehandelt haben soll. Über die ganze Welt verteilte TOPY-Zentren werden seine Lehre dennoch am Leben halten und auch fortan in Sachen Sexualmagie, Piercing, bewusstseinserweiternde Rituale u. ä. wenig Spaß verstehen. Den Grossteil der Neunziger verbringt GPO im amerikanischen Exil, wo er Burroughs und Leary sterben sieht.

Mit Thee Majesty zeigt sich Genesis als Dandy. Die Macht gehört dem Wort. Worte sind seine „wahre kreative Liebe“. Wie in jeder anderen Inkarrnation sucht er mit diesem „Gebet ohne Betenden“ nach der Essenz des Seins, dem Göttlichen und Prä-Humanen, „etwas, was noch viel größer und abstrakter und potenter ist, als alles, was wir uns je die Zeit nahmen vorzustellen“. Begleitet wird er von PTV-Mitstreiter Larry Thrascher und dem New Yorker Ryin Dall, der auch die Effekte auf dem Thee Majesty-Debüt Time's up beisteuerte. Normal will GPO immer noch nicht sein. Dafür hat er eine neue Parole: „Be nice!“.

Sonnabend, Hafenklang, 21 Uhr