Mit Kamera und Computer

Hamburger WissenschaftlerInnen untersuchen, auf welche Probleme Kinder stoßen, wenn sie von klein auf zwei Sprachen lernen  ■ Von Felix-René Dan

Das kleine Mädchen mit den langen, blonden Haaren studiert aufmerksam in einem großen Kinderbuch. „Dornröschen“, ruft die Fünfjährige plötzlich begeistert. „Da ist eine gute Fee.“ Eine Video-Kamera nimmt die Szene auf – nicht fürs Familienalbum, sondern für die Wissenschaft. Die mit Deutsch als Vater- und Italienisch als Muttersprache aufwachsende Lucia* wird für den „Sonderforschungsbereich Mehrsprachigkeit“ der Universität Hamburg gefilmt.

„Der Mensch hat die Veranlagung, mehrere Sprachen zu sprechen“, erläutert Jürgen Meisel, Professor für Romanistik und Sprecher des Sonderforschungsbereiches, die „Grundannahme“ der WissenschaftlerInnen. Allerdings: „Je früher mit der mehrsprachigen Erziehung begonnen wird, desto besser.“ Die Obergrenze hat Meisel beim Alter von fünf Jahren geortet: Nur wer bis dahin anfängt, mit beiden Sprachen zu leben, hat eine Chance, sie eines Tages beide gleichermaßen zu beherrschen. „Die Ursachen für die Veränderung beim späteren Spracherwerb liegen in der biologischen Reifung“, erklärt der Sprachforscher und vergleicht diesen Prozess mit einer Tür, die sich über Jahre hinweg sehr langsam schließt. Im Bereich der Sprachlaute früher, in der Syntax, also dem Satzbau, später. „Und im Vokabelbereich“, so der 56-Jährige, „vielleicht gar nicht.“

Doch so ehrenwert es ist, wenn Eltern ihren Kindern ermöglichen wollen, was sie selber nicht haben, nämlich die Perfektion in zwei Sprachen, es kostet auch Mühe, Verständnis und vor allem Konsequenz. „Für Kinder ist Sprache kein Spiel, sie ist Teil der Persönlichkeit“, mahnt Meisel. Zweisprachige Erziehung wird nur zu der erwünschten Zweisprachigkeit führen, wenn sie konsequent ist: Eltern dürfen jeweils nur in einer Sprache mit dem Kind reden. „Das bezieht sich auf alle Lebensbereiche – von der Liebkosung bis zum Ausschimpfen“, sagt Meisel: „One person, one language – eine Person, eine Sprache.“

Konsequenz ist auch dann wichtig, wenn die Kinder im Elternhaus eine andere Sprache sprechen als ihre Umwelt. Reden die Eltern nur die gemeinsame Muttersprache, können die Kleinen durch Kontakte im deutschsprachigen Kindergarten, in der Schule oder in der Freizeit beide Sprachen gut lernen.

Natascha Müller war Anfang der 80-er Jahre Studentin bei Professor Meisel – heute leitet die Privatdozentin das Teilprojekt B4 des Sonderforschungsbereiches. Die Romanistin und ihr Team arbeiten derzeit mit vier Kindern, die mit Italienisch und Deutsch aufwachsen. Es geht darum, so die 38-Jährige, „den Einfluss der jeweiligen Sprachen auf die Grammatik des Kindes zu analysieren“. Aus jeder Sprache ergeben sich bei Mehrsprachigkeit spezifische grammatische Probleme; beispielsweise übertragen Kinder Konstruktionen von einer in die andere Sprache. Da kommt dann schon mal ein „ich will essen den Apfel“ heraus.

Diese Systematiken wollen die WissenschaftlerInnen herausfinden. Und damit vorhersagen können. Entsprechenden Lernschwierigkeiten zum Beispiel ließe sich im Unterricht an mehrsprachigen Schulen vorbeugen, indem ein bestimmtes grammatikalisches Thema besonders ausführlich behandelt wird.

Für ihre Forschungen besucht Müller gemeinsam mit der Doktorandin Katja Cantone unter anderem die fünfjährige Lucia* zu Hause. Alle vierzehn Tage, seit mehr als drei Jahren. „Viele Eltern, die ihre Kinder zweisprachig erziehen, sind grundsätzlich an unserem Projekt interessiert“, erzählt Cantone. Aber nicht alle können zusagen, über Jahre hinweg 14-tägige Besuche zu ermöglichen. Bisher kamen die Eltern und deren Kinder aus dem Bekanntenkreis der Mitarbeiterinnen. Auch wenn die Eltern während der Besuche nicht im Kinderzimmer anwesend sind – sie profitieren von der Forschung, da ist sich Cantone sicher: „Wir können auch schon mal bei Problemen Tipps geben.“

Und die Kinder? „Die wissen es sehr zu schätzen, dass wir sie als Freundinnen besuchen.“ Die anfängliche Scheu verfliege schnell und manch einer fällt Cantone schon beim ersten Besuch um den Hals, während Müller die Szene auf Video aufnimmt. In dieser Zeit spricht die Doktorandin Italienisch mit den Kindern, danach wechseln die Rollen: Cantone setzt sich für die nächsten 30 Minuten hinter die Handkamera, während Müller mit Lucia spielt und Deutsch spricht.

„Wir wollen die Kinder zum Reden bringen“, sagt Cantone – ansonsten bestimmen aber die Kleinen die Aktionen der Großen vor dem Video-Camcorder. „Ich spiele auch gern Barbie“, sagt Cantone lächelnd. Dann ist sie für Lucia nicht mehr Katja, sondern die beiden plaudern von Puppe zu Puppe miteinander. Damit kann sie bei den drei Jungen des Projekts – alle zwischen anderthalb und fünf Jahre alt – nicht landen. „Wir reden oft über Autos“, erzählt Cantone und verwandelt sich auch schon mal in eine Ampel für die „Bobby Cars“ der Kids. Oder in die Ehefrau von Giuseppe*, wenn der Vierjährige „Familie“ spielen will. „Wir haben besprochen, wann unser Kind ins Bett soll – das Ganze endete fast in einem Ehestreit“, erinnert sich die Romanistin und lacht. Giuseppe hatte andere Vorstellungen über Erziehung und wollte dem gemeinsamen Bambino viel mehr erlauben, als Mama Katja in fließendem Italienisch zugestehen wollte.

Eine Stunde dauert so eine Sitzung, danach muss sie schriftlich ausgewertet werden. Für zehn Minuten auf Video brauchen die Forscherinnen bis zu drei Stunden. Was macht das Kind gerade? Welche Worte spricht es wie aus, und vor allem: mit welcher Grammatik spricht das Kind? In einem weiteren Schritt gibt Cantone gemeinsam mit der Doktorandin Katrin Schmitz die von den Kindern gesprochenen Worte in das Computerprogramm LAPSUS ein. Das „Linguistische Analyseprogramm Syntax und Spracherwerb“ untersucht den Satzaufbau der Kinder und wie sie ihre jeweiligen Sprachen lernen. Und schließlich vergleichen die Romanistinnen ihre Daten mit denen von Kindern, die ausschließlich mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen.

Stets ist den Forscherinnen bewusst: Selbst wenn Lucia* oder Giuseppe* vielleicht ab und zu „ich will Spagetti managare“ sagen, ein Wort verwechseln oder grammatisch falsche Sätze bilden – solche Probleme werden sie später beheben können.

„Als Kind fällt es einem zunächst nicht weiter auf, wenn man zweisprachig ist“, erzählt Cantone, die auf Sizilien als Tochter einer Deutschen und eines Italieners zweisprachig aufwuchs. Bis die Erwachsenen anfingen zu nerven. „Mit deiner Mutter musst du doch Deutsch sprechen“, mahnte früher die italienische Großmutter, die stolz war auf die polyglotte Katja, wenn die mal – wie ihre Umwelt – Italienisch mit der Mutter geredet hat. Sprach sie dann Deutsch, war es auch nicht immer leicht: Tat sie es inmitten von Italienern, verwirrte die das völlig. „Sie verstanden mich nicht und waren deshalb verunsichert. Auch wenn ich nur gesagt hatte: 'Ich weiß nicht, wo der Zucker ist'.“

Irgendwann hatte Katja Cantone genug: „Mit fünfeinhalb Jahren habe ich überhaupt kein Deutsch mehr gesprochen.“ Doch als sie mit 11 Jahren nach Hamburg zog, blieb ihr keine andere Wahl. „Anfangs fehlten mir zwar einige Vokabeln, aber die deutsche Grammatik war sofort da.“

So lautet denn auch die These der SprachwissenschaftlerInnen: Sobald ein Kleinkind „nebenbei“ eine Grammatik „gelernt“ hat, bleibt sie auch später erhalten. Und: Erwachsene sollten die Zweisprachigkeit nicht erzwingen: „Wenn ein Kind aus dem deutschen Kindergarten kommt, sollte man es nicht ausschimpfen, wenn es zunächst Deutsch statt beispielsweise Italienisch spricht.“

Längst will Katja Cantone ihre Zweisprachigkeit trotz früheren Grolls nicht missen. „Sie bestimmt mein ganzes Leben.“ Die jüngste Wissenschaftlerin des Sonderforschungsbereiches ist zudem überzeugt, dass sie deshalb auch leichter weitere Fremdsprachen gelernt hat. Und nicht zuletzt hat Cantone auch den profunden Zugang zu zwei Kulturen gefunden. Für die Deutsch-Italienerin mit zwei Pässen klingt das so: „Ich bin nicht halb und halb, ich bin zwei mal eins!“

* Namen geändert

Telefonische Elternsprechstunde des Sonderforschungsbereiches: mittwochs 11 bis 12 Uhr, Tel.: 428 38-68 86. Internet: www.rrz.uni-hamburg.de/SFB538