Das Echo der Murmeltiere

Und wer so alles nach ihrer Pfeife tanzt: z. B. Nietzsche, Beethoven und Goethe – oder: Hollywood, Plinius und die Schlawiner. Murmelin, die Salbe aus Murmeltierfett, soll gegen tausend Zipperlein helfen, ob Kolik, Keuchhusten oder Rheuma

von JOHANNES WINTER

Das Glücksgefühl, in schwindelnder Höh auf der Marmoré zu sitzen. Tief unten die smaragdene Glitzerkette der Seen, hoch oben die blendend weißen Julier-Alpen. Hinter uns ragen die Gipfel von Furtschellas, Corvatsch und Piz Bernina. Zu unseren Füßen liegt das Fextal, beschützt von Sils-Maria. Ein Adler kreist. Mit einem Mal gellen uns Pfiffe in den Ohren. Auf der blumigen Alm kullern grau-braune Pelzknäuel, halten knabbernd inne, balgen miteinander, tollen zwischen Erdlöchern im Gras. Metallische Töne dringen herüber, wie aus der Signalpfeife auf Bahnsteig 7. Welch ein Ohrenschmaus, in Dur. Es ist Marmota Marmota, das Alpen-Murmeltier.

Jetzt steht einer hoch aufgerichtet und macht Männchen. Der alte Murmler, das Alpha-Tier, hält Wache, wittert Zweibeiner auf der Holzbank und pfeift: Gefahr! Der gesunde Tierverstand, wie er leibt und lebt. Zu verargen ist es ihm nicht. Denn Marmotas Fell, Fleisch und Fett schätzt der Mensch. Besonders das Fett, noch heute. Beinah jede Apotheke im Schatten der Alpen hält „Murmelin“ feil, die Salbe gegen tausend Zipperlein, ob Kolik oder Keuchhusten, vor allem gegen Rheuma. Neunmalkluge sagen verächtlich: Placebo!

Auch dem Philosophen Nietzsche kamen die schrillen Töne zu Ohren. Nicht zur Sommerfrische war er da, sondern auf der Flucht vor seinen Kopfschmerzen. Brachte die Tinktur der Nager ihm Linderung? Er hat es uns nicht verraten. Immerhin notierte er die geheimnisvollen Laute. Sie geistern durch seine „Fröhliche Wissenschaft“. So grell klangen sie, dass er zitatreif ausrief: „Nein! Nicht solche Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!“

Nietzsche was here. Zwar stieg er nie ganz hoch ins baumlose Revier der Mungg, wie sie hier im Engadin genannt werden, auf Rätoromanisch. Er gefiel sich als einsamer Wanderer rund um die Seen im Tal. Mochte aber wohl die einsamen Vegetarier wie Seelenverwandte.

Ringsum pfeifen die Murmels von den Almen, ihre spitzen Flötentöne rühren selbst abgebrühte Mountainbiker. Pfiffe, bis die Luft rein ist. Monotonen Arien gleich, fallen die Töne nicht ins Tal, sondern verharren in der grandiosen Bergwelt, schwingen hoch oben. Der hohe Ton der Murmeltiere labt müde Wanderer im Hochgebirge; nach ihm zu lauschen, gehört hier zum guten Ton. Zwar kann Marmotas Pfeifen nicht mit dem Gesang der Sirenen mithalten. Aber folgen wir seiner Melodie, so winkt die Mitgliedschaft in einer Gemeinde von Verehrern, die ihresgleichen sucht. Dichter und Philosophen, Dramatiker und Komponisten hatten ihr kleines Techtelmechtel mit ihm. Vom Kino und der Wissenschaft noch nicht zu reden.

Der Soziologe Adorno vorneweg. Im Stil der Frankfurter Schule schrieb er über den „Laut der Murmeltiere“: „Daß er ein Pfeifen sei, sagt zu wenig: es klingt mechanisch, wie mit Dampf betrieben. Und eben darum zum Erschrecken. Die Angst, welche die kleinen Tiere seit unvordenklichen Zeiten müssen empfunden haben, ist ihnen in der Kehle zum Warnsignal erstarrt; was ihr Leben beschützen soll, hat den Ausdruck des Lebendigen verloren. In Panik vorm Tod haben sie Mimikry an den Tod geübt. Selbst die Pfiffe, mit denen sie klaglos die Naturfreunde verklagen, sind selten geworden.“ So weit Adorno und seine anrührende Miniatur aus Angst und Dampf, Panik und Klage. Der Frankfurter Philosoph zupfte die Kritische Theorie über den Gesang der Murmeltiere.

Ein Adler schwebt über unserer Holzbank auf der Marmoré, dreht Spiralen im Sinkflug. Nur das Rauschen seiner Flügel ist zu spüren. Noch schrillt die Alarmpfeife. Der alte Murmler steht auf der Matte. Alt und Jung sind schon auf der Flucht, sausen in die Erdlöcher, suchen den Schutz im Bau. Den Letzten aber beißt der Adler, greift ihn sich und entschwebt.

Auf der Marmoré ist Schweigen eingekehrt, die kleine Einsamkeit zwischen den erhabenen Gipfeln. Allmählich wird es auf der Alm wieder lebendig. Uns ist wohler zumute, seit wir uns, unsichtbar für das kuschelige Dutzend, hinter einen Felsblock verzogen haben, den heimlichen Blick auf die Murmelkolonie zu genießen. Ähnlich könnte die Szene gewesen sein, die Ernst Bloch, der Philosoph und Zeitgenosse Adornos, ganz in der Nähe erlebte. Auch ihm entlockte der Pfeifton wunderliche Worte. Sie hörend, fühlte er sich „umgeben von Murmeltieren im Geröll und einer Stille dazwischen, als sauste nicht das Blut in den Ohren, sondern die Gräser und Felsen selber hätten eine Stimme erlangt, und der feine Gesang des Bluts käme von ihnen her, vom brüderlichen Draußen“.

Auch Beethoven hatte das Murmeltier ins Herz geschlossen. Rheinabwärts, fern der Alpen, ist er ihm begegnet, auf dem Marktplatz in Bonn, seiner Heimatstadt. Ein Fastnachtspiel, das frühe Stück eines Autors namens Goethe, regte ihn an. Zu Bonn also ließ der seine Farce vom „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ geben. Kein Murmeltier aus der Requisitenkiste trat auf, sondern, neben Gauklern und Hanswürsten, ein Knabe aus den Savoyer Alpen, ein Marmottejunge, wie sie seinerzeit bettelnd über Dörfer und Städte zogen, im Käfig ein dressiertes Murmeltier, das zu ihren Flötentönen tanzte. Jetzt eben auf der Bühne.

Winzig der Part, den der Bube als Taschendieb im Jahrmarktstreiben auf dem Theater zu geben hatte, doch den Komponisten im Publikum ließ er nicht los. Heraus kam das Lied „Marmotte“, in a-Moll, ein Allegretto-Stückchen (Opus 52 Nr. 7). Im Sechsachteltakt vertonte Beethoven Goethes Gedicht vom kleinen Murmeltier-Dompteur: „Ich komme schon durch manche Land, avecque la marmotte, und immer was zu essen fand, avecque la marmotte, avecque sí, avecque là, avecque la marmotte.“ Wir merken: Marmota hat Karriere gemacht, vom Flötentöner zum Tanzbär. Doch zurück in die alpine Wirklichkeit.

Hinter dem Felsblock liegen wir und schmunzeln über die tollenden Kobolde. Die ältere Generation des Clans geht der Futtersuche nach. Für den langen Winterschlaf, der unausweichlich näher rückt, heißt es, sich einen Ranzen anzufressen. Vor allem die Väter, denn sie geben acht lange Monate das Heizkissen ab für die Babys. Gegen die unterirdische Kälte – bei gerade mal 5 Grad wird überwintert – braucht es fuderweise Heu.

Dazu hat vor nicht ganz 2.000 Jahren Plinius der Ältere eine Fabel beigesteuert. Zu lesen in seiner Naturgeschichte im Kapitel über das Murmeltier alias „Mus Alpinus“, die Alpenmaus. Der römische Historiker erzählt, wie sich die Winterschläfer einen der Ihren auszuwählen pflegten, um ihn als Heuwagen zu benutzen. Auf dem Rücken liegend und mit trockenem Gras zwischen den Pfoten bepackt, wurde er, wie eine Rohrpost, in die Schlafhöhle gezogen und geschoben.

Nicht weit von Goethe, nur ein paar Ecken entfernt, lebte in Frankfurt Clemens Brentano, der romantische Dichter. Er verfasste gar ein ganzes „Märchen vom Murmeltier“. Doch der Titel führt uns in die Irre. Hauptperson ist nämlich ein armes Hirtenmädchen, das, bedrängt von einer bösen Stiefmutter, viel Grund zum „Murmeln“ oder Klagen hat.

Auch im seriösen Drama trat Marmota auf. Doch blieb er Statist. Goethes Kollegen Schiller und Kleist gönnten dem Kleindarsteller nur symbolische Rollen. Mal schlief das Heilbronner Käthchen murmeltiertief, mal mimte Ferdinand in „Kabale und Liebe“ den Marmottebuben.

Irgendwann kam der Tag, als Marmota den Sprung in eine Hauptrolle schaffte. Keine zweihundert Jahre dauerte es. Dann hatte das Murmeltier – Hollywood sei Dank – im Kino seinen großen Auftritt. Vor unseren Augen taucht er auf, der Ort, weit weg von den Alpen. Sein Name ist Punxsutawney. Das verschlafene Nest liegt im Staate Pennsylvania und feiert jeden 2. Februar den Murmeltiertag, den amerikanischen groundhog-day, seit ewigen Zeiten, immer wieder, bis in alle Ewigkeit. So lange schon, dass ein Film daraus wurde: „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

Das Publikum erlebt Bill Murray als Reporter Phil, wie er, gleichsam auf Nietzsches Jagd nach der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in eine Zeitschleife gerät, dem Hamster im Tretrad ähnlich. Zwar muss der Fernsehmann sein Alter Ego – Phil, das Murmeltier – sogar entführen. Beide geraten schließlich ganz von der Rolle. Aber die Liebe siegt. Happy endet alles. Wir meinen: Das hat Marmota nicht verdient! Nichts wie weg von hier, Marmoré ade, Punxsutawney bye.

Willkommen im hessischen Marburg an der Lahn. Und, welche Überraschung: Murmeltiere. Sie leben hier im Exil, als Objekte der Forschung in der weltweit einzigen wissenschaftlichen Station außerhalb ihrer Heimat. Marmota Marmota unter der Fuchtel der Forscher, wie sie diplomieren oder dissertieren über Stoffwechselprobleme oder Energiehaushalt. Wer könnte dafür eine passendere Überschrift beisteuern als Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Winterschläfer für den Menschen.

In ehemaligen Volieren und unter Munitionskisten der Bundeswehr haust auf den Lahnbergen ein munteres Völkchen, angeführt von Alpha-Tier „Opa“, nicht zu vergessen Luis (Trenker) und Luise, Zenzi und Russell und natürlich Phil (aus Hollywood). Wir dürfen staunen, vor allem über eine merkwürdige Exkursion. Dann hinterlegt die Wissenschaftsfamilie ihren Sesamschlüssel, die Pyrovatdehydrogenase, eine ureigene Marburger Entdeckung – quasi der Schalter für den Stoffwechsel zum Winterschlaf –, im Tresor und reist in die wirkliche Welt der Murmeltiere, ins Hochgebirge. Dort, in Oberstdorf, geschieht es, dass unterm Alpenglühn der Forscherdrang umschlägt in die Liebe zum Lied. Nun muss Beethovens Opus 52 Nr. 7 herhalten.

Professor Heldmaier, der Marburger Murmeltier-Guru, bekommt leuchtende Augen und wechselt das Metier. Unter seiner Stabführung mutiert die studentische Forschergruppe in einen Chor und versucht sich an der Marmota-Hymne. Da verhallt ein wirklich schräges Echo, und die Sänger brechen in homerisches Gelächter aus. Die Darbietung des hessischen Laien-Ensembles wird womöglich nur von der Musik der Einheimischen überboten. Es ist die oberbayerische Spezies der Dickebacken-Bands wie die „Original Schneetaler“, hier in direkter Konkurrenz zum „Schlawiner Kinderchor“. Wenn die sich musikalisch an „Max, das kleine Murmeltier“ heranmachen, sich nachgerade an ihm vergehen, dann erklingt – adieu, Nietzsche – schlicht Menschliches, Allzumenschliches.