Das Chefsachen-Desaster

von NICK REIMER

Einer muss es sagen. Das weiß auch Gerhard Schröder. Für den deutschen Osten installierte der Niedersachse deshalb bei seinem Amtsantritt einen Extralautsprecher. Staatsminister Aufbau Ost heißt die im Bundeskanzleramt angesiedelte Planstelle, mit der Schröder eines seiner Wahlversprechen einzulösen gedenkt: die Chefsache!

Nun hat es einer gesagt. Und das Geschrei ist groß. „Eine ehrliche Bestandsaufnahme muss feststellen, dass die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland auf der Kippe steht.“ Diese drastische Einschätzung kommt aber nicht von Rolf Schwanitz, den Kanzler Schröder zum ministeriellen Chefsachenbeauftragten machte. Dieser Satz stammt von Wolfgang Thierse, dem Bundestagspräsidenten. Der hat sich in seiner Funktion als stellvertretender SPD-Vorsitzender hingesetzt und in einem parteiinternen Papier „Fünf Thesen zur Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland“ aufgeschrieben. Es ist nicht bekannt, ob der Bundestagspräsident mit der Arbeit des Staatsministers Schwanitz zufrieden ist. Bekannt ist aber, dass Thierse, Ostdeutscher, Moralist, Parteimensch, mit der SPD auch die nächsten Wahlen gewinnen will. Die letzten wurden in Ostdeutschland entschieden.

Im wirtschaftlichen Teil seines Papiers listet Thierse akribisch das ganze ostdeutsche Dilemma auf: Das Wirtschaftswachstum bleibt seit Jahren hinter dem westdeutschen zurück, die Zahl der Jugend- oder Langzeitarbeitlosen steigt dramatisch, die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zieht Kaufkraftverlust und damit weniger Steuereinnahmen nach sich, die Investitionen in den ostdeutschen industriellen Kapitalstock gingen immer weiter zurück. Interessant an dieser Liste der Grausamkeiten ist, dass die meisten Bezugszahlen aus dem Jahr 1998 stammen. Damit stellt Thierse seiner Regierung ein miserables Halbzeitzeugnis aus.

Der zweite, nicht mit Wirtschaftsdaten belegte Teil handelt von der kaum noch reparablen Osterfahrung, Bürger zweiter Klasse im geeinten Deutschland zu sein. Thierse beobachtet zwei gegensätzliche Identitätskonstruktionen: „Im ersten Extrem grenzt man sich als ‚ostdeutsch‘ von der gesamtdeutschen Identifikation ab, und im anderen dient die Identifikation als Deutscher dazu, die Überwindung der ostdeutschen Herkunft zu demonstrieren.“ Der rechte Nährboden, auf dem „nostalgische und nationalistische Identifikationen wachsen“.

Adressiert war das Papier an neun führende Ost-Genossen, die Thierse konspirativ um Vertraulichkeit bat. Alle Konspiration half nichts. Die Zeit publizierte das Papier in ihrer jüngsten Ausgabe. Und trat damit einen parteiinternen Streit los. Einer der Adressaten war Staatsminister Rolf Schwanitz, dem Kritiker seit langem vorwerfen, zu sehr in Schröders Schatten zu stehen, sich zu selten öffentlich als Lautsprecher für die Chefsache Ost einzusetzen. „Ich habe das Gefühl, das die negativen Wirkungen des Papiers überwiegen“, bewertete der Sachse Thierses Papier gegenüber der taz. Es bestehe die Gefahr, dass die Ostdeutschen gesamtdeutsch wieder nur als „eine Gemeinschaft des Jammers wahrgenommen werden“.

Schwanitz hatte sich extra aus dem Archiv der Zeit deren letzte Umfrage zur „Lage in Ostdeutschland“ besorgt. Schwanitz sagt: „Immer mehr Ostdeutsche fühlen sich als Gewinner der Einheit und in der Bundesrepublik zu Hause.“ So hätten sich vor sieben Jahren nur 32 Prozent der Ostdeutschen als Gewinner gefühlt, im letzten Jahr waren es aber schon 59 Prozent. Der Staatsminister Ost billigte Thierses Papier allenfalls „den Wert zu, dass die Thesen die westdeutsche Seite drastisch sensibilisieren“.

Ein anderer Adressat war Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe, der auch Chef des SPD-Forums Ost ist. In dieser als Verein konzipierten Ideenschmiede treffen sich von Friedrich Schorlemmer und Richard Schröder bis Harald Ringstorff und Karl-Heinz Kunkel regelmäßig die führenden Sozialdemokraten Ostdeutschlands. Thierses „depressives Papier“, sagt Stolpe, sei wenig hilfreich. „Ich teile die Analyse nicht. Was wir brauchen, sind Lösungswege.“

„Es muss klar gesagt werden“, schreibt Thierse weiter, „sparen kann man im Fall Ostdeutschlands nur, wenn man in die wirtschaftliche Entwicklung investiert.“ Diese Botschaft macht klar, warum der Bundestagspräsident jetzt mit seinen Thesen kommt. Ende Januar beginnen die Verhandlungen zum Solidarpakt II und zum Länderfinanzausgleich. 500 Milliarden Mark, so hatten vor einem Jahr die führenden Wirtschaftsinstitute berechnet, beträgt der Nachholbedarf Ostdeutschlands.

Zufrieden wären die ostdeutschen Länderchefs schon, wenn die finanzielle Förderung auf dem derzeitigen Niveau weiterliefe. Was schwer genug wird – die westdeutschen Länder sind nur sehr widerstrebend gewillt, dieses Volumen aufzubringen.

Ein regierender Bundestagspräsident gegen einen regierenden Chefsachenverwalter und einen regierenden Ideenschmiedenchef. Darum scharen sich die Heere. Mit Vehemenz geben Opposition, wie CDU-Fraktionsvize Günter Nooke, Parteifreunde wie der Abgeordnete Klaus Wiesehügel und Gewerkschaftler Thierses Thesen recht. Mit Vehemenz werden sie von Opposition – Sachsens Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) – und Sozialdemokraten – SPD-Bundestagsabgeordnete Sabine Kaspereit – verteufelt. Nach dem Jubeleinheitsjubiläum wird jetzt endlich wieder über die Realität in Ostdeutschland geredet. Insofern hat der Bundestagspräsident Recht. Einer muss es sagen.