„Nicht nörgelnder Zaungast bleiben“

Deutschlandexperte Boris Orlow über Russlands Beziehungen zu Deutschland und den Werten Europas

taz: Präsident Putin und Kanzler Schröder treffen sich unter dem Weihnachtsbaum. Beginnt eine neue Etappe im deutsch-russischen Dialog?

Boris Orlow: Die Beziehungen sind seit längerem unterkühlt. Nicht erst seit Gerhard Schröders Amtsübernahme. Die wenigen gemeinsamen Projekte in den vergangenen Jahren belegen das. Ich würde sogar von einer Phase der Entfremdung sprechen. Zurzeit eröffnet sich in der Tat eine neue Chance zur Kooperation. Ich bin sicher, man wird nicht nur feiern, sondern auch ernsthaft reden.

Worauf stützt sich Ihr Optimismus?

Dezidierte Vorstellungen liegen auf dem Tisch, wie Russland seine Schulden gegenüber Deutschland abtragen kann. Schon im Interesse unserer Reputation ist es wichtig, den Verpflichtungen nachzukommen. Einen Teil der Schulden durch Aktienbeteiligungen an russischen Unternehmen zu begleichen, halte ich für sinnvoll. Damit gelangt auch unternehmerisches Know-how nach Russland, das wir immer noch bitter nötig haben. Nicht zuletzt fördert das eine allmähliche Vernetzung der Interessen auch auf anderen Ebenen. Beide Politiker bringen gute Voraussetzungen mit, weil sie pragmatisch an die Sache herangehen. Außerdem vertreten sie die erste Generation, die die durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges nicht belastet ist.

Pragmatismus gut und schön. Russland betont, ein Teil Europas zu sein. Sobald es an die Werteskala des neuen Europa erinnert wird, sieht es darin eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten.

Ich hoffe, die Intimität des Treffens macht es möglich, genau diese Wertorientierungen anzusprechen. Unsere Politiker müssen begreifen, dass Russlands Zukunft in Europa liegt. Wenn wir den Anschluss an die Industriestaaten nicht verpassen wollen, können wir nicht auf ewig nur nörgelnder Zaungast bleiben.

Überfordert die europäische Perspektive – Gleicher unter Gleichen zu sein – nicht die Vorstellungskraft von Politik und Öffentlichkeit heute?

Über die Hälfte der Bevölkerung träumt tatsächlich von einem russischen Sonderweg. Nur ein knappes Sechstel wünscht sich ein Russland nach dem Vorbild der europäischen Zivilisation. Die Politik der nächsten Jahre wird unter diesem Zeichen stehen. Die Politiker sollten eigentlich erkannt haben, welcher verhängnisvollen Illusion sie da aufsitzen. Aber wer das anspricht, macht sich heute sehr unbeliebt.

In diese Logik passt auch das Gerede von einer Neuauflage Rapallos ...

In der Duma sitzt eine Reihe von Abgeordneten, die in diesen überholten geopolitischen Kategorien denkt. Sie spekulieren darauf, Interessengegensätze zwischen Berlin und Washington auszunutzen. Viele haben noch nicht begriffen, dass sich mit Europa eine neue politische Kraft entwickelt hat. Putin ist bemüht, die Beziehungen zu Paris, Rom und London gleichermaßen auszubauen. Wegen der historischen und kulturellen Bindungen wird Deutschland außenpolitisch aber der entscheidende Ansprechpartner bleiben. Auch wenn die Erwartung, Deutschland würde uns in den ersten Reformjahren tatkräftiger zur Seite stehen, wohl unrealistisch war.

Was kann getan werden?

Die Selbstverwaltung in den Regionen ist Dreh-und Angelpunkt jeder demokratischen Entwicklung. Wenn deutsche Kommunen Kontakte zur russischen Provinz ausbauen würden, wäre uns damit sehr geholfen. Schon, um der Tendenz zur Rezentralisierung etwas entgegenhalten zu können. INTERVIEW: K.-H. DONATH