Entscheidend ist, wer arbeiten darf

SPD-Senator Peter Strieder will in den kommenden zehn Jahren 200.000 Einwanderer nach Berlin locken und so die Wirtschaft ankurbeln. Zahlen reichen nicht, Konzepte fehlen, wirft ihm die Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John (CDU), vor. Und der grüne Innenpolitiker Wolfgang Wieland fordert, auch jene Migranten in die Planung einzubeziehen, die längst in Berlin leben. Ein Streitgespräch über Gegenwart und Zukunft von Zuwanderung

Moderation: JULIA NAUMANN
und SABINE AM ORDE

taz: Herr Strieder, Sie wollen in den nächsten zehn Jahren 200.000 Einwanderer nach Berlin holen, damit die Stadt nicht schrumpft. Sind da nicht Konflikte programmiert?

Peter Strieder: Wir müssen den Menschen die Ängste nehmen. Wir müssen deutlich machen, dass Einwanderer keine Arbeitsplätze wegnehmen, sondern das Potenzial sind, damit neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die offensive Migrationspolitik, die ich fordere, ist ja keine Politik der Linderung humanitären Leids überall auf der Welt. Ich will eine offensive Anwerbepolitik für junge, motivierte und am besten noch gut ausgebildete Leute, wie sie die USA und Kanada seit langem betreiben.

Barbara John: Die Angst kriegen wir aber nicht so schnell weg. Zu lange wurde der Eindruck erweckt, dass der deutsche Arbeitsmarkt ein Kuchen von einer bestimmten Größe ist, und wenn mehr daran teilhaben, dann werden die Krümel immer kleiner. Dabei ist das einfach falsch. Arbeitnehmer sind wie Hefe. Wenn mehr da sind, dann wird der Kuchen größer. Das schafft Arbeitsplätze, gerade auch im Dienstleistungsbereich für Geringverdiener. Ich teile die Forderung, dass Berlin Einwanderung braucht, auch mit der Zahl 200.000 kann ich übereinstimmen. Aber eine solche Zahl reicht nicht aus. Sie muss von neuen Konzepten begleitet werden, und daran mangelt es bislang. Um eine solche Dynamik zu entfalten, muss sich an der Migrationspolitik faktisch alles ändern. Denn die Menschen, die kommen, wollen ihren Lebensstandard verbessern, sie wollen arbeiten. Aber als Erstes bekommen sie „keine Arbeitserlaubnis“ in ihren Pass gestempelt. Die Leute müssen Zugang haben zum Arbeitsmarkt und dem selbstständigen Gewerbe, jetzt ist beides nicht möglich.

Wolfgang Wieland: Wichtig sind doch zwei Dinge: Wir müssen das Bewusstsein für Einwanderung und die Bedingungen schaffen, damit Einwanderung funktioniert. Strieder hat sich um das Erste verdient gemacht. Es war selbst heute noch mutig, diese Zahl zu nennen. Allerdings liegen die demographischen Zahlen seit zwanzig Jahren vor und erst jetzt setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass wir Einwanderung brauchen.

Strieder: Wir müssen auch das wirtschaftliche Potenzial derjenigen, die schon hier sind, sinnvoll einsetzen. In London gibt es ein Programm „ethnic minority business“, das vergleicht die erworbenen Qualifikationen mit der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit. Welcher Chirurg fährt Taxi? Welche gut ausgebildete Krankenschwester arbeitet nicht in ihrem Beruf? Auch in Berlin müssen wir die Qualifikationen derer nutzen, die schon in der Stadt sind.

John: Es gibt ja viele, die qualifiziert sind – nur lassen wir sie nicht ran an den Arbeitsmarkt. Oder sie dürfen nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten. Nehmen wir mal eine Krankenschwester mit einem polnischen oder ungarischen Diplom. Das wird nicht anerkannt und die Frau kann deshalb hier nicht im Krankenhaus arbeiten. Für Ärzte und Apotheker gibt es ganz rigide Gesetze, mit denen sie sich schützen gegen ausländische Konkurrenz. Aber auch die IHK und die Handwerkskammer erkennen Qualifikationen noch nicht einmal im europäischen Rahmen an. Wer sich in diesem Bereich selbstständig machen will, muss unglaublich viele Vorschriften erfüllen. Das müsste man alles überprüfen.

Wieland: Das kann man fortsetzen. Wenn ein Restaurantbesitzer einen indonesischen Spezialitätenkoch einstellen will, muss er nachweisen, dass kein Deutscher oder EU-Ausländer gut genug indonesisch kochen kann. Die Gruppe der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge lebt seit langem hier, hat Ausbildungen gemacht, und jetzt sollsie gehen. Wir fragen uns, ob Inder, Kinder oder Rinder kommen sollen, und niemand sieht, dass sie schon hier sind: Palästinenser, Kroaten, Kosovo-Albaner.

Strieder: Die Berliner Wirtschaft hat nicht so viele Wachstumsreserven, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Die Anwerbung neuer Großunternehmen wird auch nicht den Durchbruch bringen. Deshalb müssen neue Unternehmen gegründet werden. Das können Flüchtlinge und Immigranten, die heute ein Arbeitsverbot haben. Und das können solche, die wir reinholen wollen. Diese Chance haben wir, weil kaum eine andere Stadt in Europa so attraktiv ist wie Berlin.

John: Seit dem 1. Januar haben wir ja die Möglichkeit, dass Asylbewerber und Geduldete nach einem Jahr Aufenthalt eine Arbeitserlaubnis bekommen ...

Wieland: Was ein riesiger Fortschritt ist.

John: Moment. Auf dem Papier, lieber Herr Wieland. In der Praxis läuft das so: Wenn ein Arbeitgeber jemanden beschäftigen will, holt das Arbeitsamt eine Liste von Bevorrechtigten heraus. Wenn der Arbeitgeber die aber nicht einstellen will, dann vermittelt das Arbeitsamt niemanden. Dann kriegt aber auch der Asylbewerber den Job nicht, weil er offensichtlich williger ist als die anderen, die sich vorgestellt haben. Und das ist unlauterer Wettbewerb. Der Asylbewerber fällt also zurück in die Sozialhilfe. Man hätte den Leuten eine vorrangige Arbeitserlaubnis geben müssen. Ich will ein Beispiel nennen, womit wir in Berlin beginnen könnten, was aber einer kleinen Revolution gleichkommen würde: Die Gewerbeerlaubnis ist im Ausländergesetz nicht geregelt, das sind nur die Ansprüche. Anspruch auf Erteilung einer Gewerbeerlaubnis hat man, wenn man eine Aufenthaltsberechtigung hat, also acht Jahre hier ist. Wenn man deutsch verheiratet ist. Oder wenn ein öffentliches Interesse durch den Wirtschaftssenator festgestellt wird. Es hindert uns kein Gesetz daran, jedem Ausländer, der legal hier ist, die Erlaubnis zu geben, sich selbstständig zu machen. Darüber sollte der Senat nachdenken.

Ist Berlin für Einwanderer wirklich so attraktiv? Die Bundesrepublik ist für bürokratische Hemmnisse bekannt, Ostdeutschland für rechtsextreme Gewalt. Die Greencard war für Berlin eine Pleite: Gerade für 144 solcher Arbeitserlaubnisse gab es Interessenten.

Wieland: Berlin ist als Stadt ein Magnet, aber man schmeißt die Leute raus, weil die gesetzlichen Regelungen so sind ...

Strieder: Ich habe nicht behauptet, dass der Ist-Zustand für Ausländer attraktiv ist, aber in Berlin zu leben ist attraktiv.

Wieland: Das ist doch keine Frage. Aber der indische Computerspezialist, dieses Idealbild der Greencard-Debatte, der überlegt sich natürlich, ob er nach Berlin kommt, der hat Angebote weltweit. Aber der ist doch völlig untypisch. Es ist die Frage, warum gibt man den anderen keine Chance. Auf dem Balkan zum Beispiel ist die Bundesrepublik, ist Berlin attraktiv. Bei den östlichen Nachbarländern ist das auch keine Frage. Sie sind ja hier, bislang allerdings mit einem Touristenvisum. Die Magnetfunktion ist da. Die Frage ist, wie kommt man sinnvoll zu Legalisierungsprozessen.

John: Ich glaube, dass wir in der Konkurrenz mit anderen Ländern nicht die Attraktivität haben, die besten Köpfe anzuwerben. Da sind andere besser, auch im europäischen Raum ...

Strieder: Weil sie offener sind.

John: Ja, weil sie offener sind, weil man weniger Steuern zahlen muss, weil man die Sprache kann, zum Beispiel Englisch.

Wieland: Und weil man keine Angst haben muss, auf der Straße totgeschlagen zu werden.

John: Auch das spielt eine Rolle. Aber was ich mit Sicherheit voraussagen kann, ist, dass die Einwanderungskommission der Bundesregierung einen Beschäftigungskorridor für Hochqualifizierte vorschlagen wird. Da aber gibt es keinen Einwanderungsdruck, die wollen gar nicht nach Deutschland. Was wir auch brauchen, ist ein Einstellungskorridor für Niedrigqualifizierte – und das ist eine Herausforderung. Von diesen Menschen gehen viele ins Asylverfahren, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, nach Deutschland zu kommen. Es gibt den Netzwerkeffekt türkischer Familien, die hier leben und noch einen Teil der Familie in Südostanatolien haben. Diese Leute versuchen, irgendwie hierher zu kommen und landen oft in der Sozialhilfe.

Strieder: Das ist aber nicht die Migrationspolitik, über die wir zurzeit diskutieren. Wir wollen nicht die Arbeitslosigkeit erhöhen, sondern neue Chancen schaffen.

John: Aber der Einwanderungsdruck der Wenigqualifizierten ist viel größer als der der Hochqualifizierten, von denen Sie sprechen. Das gilt gerade für Berlin, weil hier ihre Community lebt. Sie werden kommen. Und wenn wir sie produktiv machen wollen, müssen wir uns etwas einfallen lassen.

Strieder: Das finde ich gefährlich, weil Sie so Ängste hervorrufen: entweder Hochqualifizierte, die wollen aber nicht, oder Wenigqualifizierte, die vom Staat versorgt werden müssen.

John: Falsch. Ich sage, dass für beide Gruppen der Arbeitsmarkt offen sein muss. Bei den weniger Qualifizierten, deren Zuzug wir nicht steuern können, sollten wir großzügiger mit der Arbeitserlaubnis und knauserig mit der Sozialhilfe sein.

Wieland: Richtig ist: Wir haben den Druck von den einen, die anderen müssen wir anlocken.

Strieder: Wir brauchen junge Menschen, die initiativ und produktiv sein können. Die formalen Qualifikationen sind zweitrangig. Wir dürfen aber nicht diesen Popanz aufbauen, hoch qualifiziert heißt Uniabschluss.

John: Im Moment heißt das ein Verdienst von mindestens 100.000 Mark. Es muss auch etwas geben, was jetzt noch starken gewerkschaftlichen Widerstand hervorruft, nämlich eine größere Lohnspreizung. Ein großer Teil der Leute hat einen Rechtsanspruch auf ein Bleiberecht, zum Beispiel Familienangehörige oder Flüchtlinge mit kleinem Asyl. Sie können oft kein Deutsch, sind beruflich nicht qualifiziert. Auf der Ebene der vorgegebenen Tariflöhne haben sie keine Chance. Sie würden auch erst mal mit einem Stundenlohn von zwölf Mark auskommen. Das ist aber nicht erlaubt.

Strieder: Diese Debatte jetzt mit der offensiven Migrationsdebatte zu verbinden ist natürlich verkehrt. Das weckt Ängste, dass die Wirtschaft sich für Migration stark macht, um Lohndumping betreiben zu können.

John: Ich rede von den Zuwanderern, die ein verbürgtes Recht auf Einreise und auf Aufenthalt haben: Ehepartner, Aussiedler, anerkannte Flüchtlinge, etwa 6.000 allein im Jahr 1999.

Strieder: Die Tarife im Hotel- und Gaststättengewerbe scheinen mir eher so zu sein, dass Deutsche da nicht arbeiten wollen und Nichtdeutsche das machen. Das Hauptproblem ist: Wir müssen deutlich machen, dass die Prosperität der Stadt und der Abbau von Arbeitslosigkeit zu einem ganz großen Teil davon abhängt, dass wir Leute haben, die initiativ sind, Ideen haben und die Ökonomie so antreiben, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Es könnte sein, dass zuerst Zuwanderer Arbeitsplätze kriegen und dann durch den Aufschwung die Arbeitslosen wieder in Erwerbstätigkeit kommen können.

Ein Großteil der Migranten wird künftig aus Osteuropa kommen, auch wenn es bei der EU-Erweiterung zunächst Übergangsfristen geben wird. Ist Berlin darauf vorbereitet? Oder werden die Fehler wiederholt, die man mit den so genannten Gastarbeitern aus der Türkei in Kreuzberg gemacht hat? Gibt es dann ein polnisches oder russisches Marzahn?

Wieland: Man darf auf keinen Fall dieselben Fehler machen. Damals hat man die Bevölkerung mit einer planlosen Einwanderung alleine gelassen. Plötzlich war die halbe Straße türkisch. Die Menschen landeten in gerade frei gewordenen Altbauquartieren. Als dann Familienbildung durch Nachzug erfolgte, fehlte jede soziale Infrastruktur. Nötig sind Vorbereitungen in Schule, Kinderbetreuung, in der Bereitstellung von Wohnraum in gemischten Quartieren. Sonst haben wir sofort wieder die Negativerscheinungen. So funktioniert Integration nicht.

Strieder: Das ist wirklich ein Problem. Schon haben wir eine Konzentration sozialer und ethnischer Gruppen, die neu eingewandert sind. Dort gibt es auch all die Ängste, die es in Kreuzberg gibt. Deshalb muss Politik offensiv erklärend sein, Schulen und Kitas müssen auf die Einwanderung vorbereitet sein. Und wir dürfen nicht zulassen, dass wieder nur einige Kieze und Bezirke für die Integration zuständig sind. Zur richtigen Mischung muss die ganze Stadt beitragen. Wir wollen Migration mit einem Integrationskonzept verbinden. Beides geht nur zusammen.