England, sweet England . . . !

Der Fotograf Martin Parr ist ein genauer Beobachter englischer Absonderlichkeiten, und diese kommen auf seinen Fotos knallbunt und schräg daher. Auch sein neuestes Buch ist eine ironische Studie englischer Lebenswelten und Gewohnheiten

von RALF SOTSCHECK

Martin Parr gehört zu den international bekanntesten Fotografen, aber in seiner englischen Heimat kennt ihn kaum jemand. „Großbritannien ist das einzige kultivierte Land, wo die Zeitungen keinen Fotokritiker haben“, sagt er. „Wenn ich eine neue Arbeit veröffentliche, gehe ich davon aus, dass sie hier nicht besprochen wird.“

Das stimmt nicht ganz. So mancher Kritiker hat ihn in Grund und Boden verdammt. Parr ist ein genauer Beobachter englischer Absonderlichkeiten.

Kritiker meinen, er sei zynisch und mache sich lustig über die Menschen. Dass er zynisch sei, bestreitet Parr. Seine Fotos seien satirische Studien englischer Identität. Er habe ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Heimatland: „Einerseits mag ich das Land, andererseits mag ich die beschränkte Einstellung vieler Leute nicht, die antieuropäische Haltung und das Misstrauen gegenüber Ausländern.“

Die Besessenheit habe er von seinem Vater, einem Beamten, sagt Parr. Der fuhr jedes Wochenende hinaus aufs Land, um Vögel zu beobachten. „Wir verbrachten die Wochenenden an der Kläranlage in Hersham. Ich machte Fotos, denn ich erkannte die Komik dieser Szene.“ Er selbst gehörte eine Zeit lang zu den „Trainspottern“, jener Spezies, die auf Bahnsteigen sitzt und die einfahrenden Züge auf einer Liste abhakt. Das nennt Parr die „Anorak-Seite“ seiner Persönlichkeit. Parr kam 1952 in der südenglischen Grafschaft Surrey zur Welt. In den Siebzigerjahren besuchte er die Kunstakademie in Manchester. Nach seinem Abschluss hielt er sich mit Gelegenheitsjobs und Stipendien über Wasser, während er sich auf dokumentarische Fotografie der schwindenden traditionellen Aspekte Nordenglands konzentrierte.

Schon damals war er ein besessener Sammler. In seinem fünfstöckigen Haus in Bristol stapeln sich inzwischen Miniatur-Beatles-Gitarren, kleine Spielzeugfernseher und bizarre Tapetenrollen. Seine Sammlung grauenhafter Ansichtskarten hat er sogar als Buch veröffentlicht – „Boring Postcards“ wurde zum Bestseller. Zu seiner Freude entdeckte er, dass es in Oregon in den USA eine Stadt namens Boring – auf Deutsch: langweilig – gibt. Er fuhr hin, fotografierte das „Boring Post Office“, den „Boring Car Park“, die „Boring Petrol Station“ und jedes Haus im Ort. Die 22.000 Fotos ließ er in einer Drogerie entwickeln und machte ein auf zwölf Exemplare limitiertes Buch mit dem Titel „Boring“ daraus, zu erwerben für 3.500 Pfund. „Das ist ein Statement über Kunst, voller Widersprüche“, sagt er. „Ich bin Fotograf. Ich bezeichne mich nicht als Künstler.“ Dennoch ist er einer.

15 Bücher hat Parr bisher veröffentlicht. Seine ersten beiden über Calderdale und Westirland enthielten herkömmliche Fotos, aber schon mit seinem dritten Buch löste er eine Kontroverse aus. Er fotografierte zum ersten Mal in Farbe, sein Thema war die Liverpooler Arbeiterklasse, die das Wochenende in New Brighton, einem Vorort, verbrachte: Menschen am zubetonierten Strand inmitten Bergen von Müll und unappetitlichem Fast Food vor sich. Als die Bilder in London ausgestellt wurden, fielen die Kritiker über ihn her: Er beute die Arbeiterklasse aus, warf man ihm vor.

Dabei steht er politisch links. Das nützte ihm freilich nichts, als er sich 1994 bei der renommierten Agentur Magnum bewarb. Man wollte ihn nicht. „Parr hat stets die Werte abgelehnt, auf denen Magnum aufgebaut ist“, schrieb der Vietnamkriegsfotograf Philip Jones Griffiths an die anderen Agenturmitglieder. „Ihn als Magnum-Fotografen aufzunehmen, hieße, einen erklärten Feind zu umarmen. Sein Verlangen, die Opfer thatcheristischer Tory-Gewalt zu treten, hat mich veranlasst, seine Bilder als faschistisch zu beschreiben.“ Der Agenturgründer Henri Cartier-Bresson bescheinigte Parr, von einem anderen Planeten zu kommen. Bei seinem zweiten Anlauf wenig später wurde er mit einer Stimme Mehrheit aufgenommen. Cartier-Bresson ist ihm seitdem freundlicher gesinnt, aber Jones Griffiths spricht noch immer nicht mit Parr. Brigitte Lardenois, die Chefin der Kulturabteilung bei Magnum in London, sagt: „Parr fotografiert ganz normale, alltägliche Dinge, damit man denkt, dass mit dieser Normalität irgend etwas nicht stimmt. Ich fahre oft durch Britannien und sehe Martin-Parr-Situationen. Sie sind Teil unseres visuellen Vokabulars geworden.“ 1999 machte er Nahaufnahmen von Konsumartikeln. Als er die Fotos mit einem Laserkopierer vervielfältigte, fand er, dass die Kopien besser aussahen als die Fotoabzüge. So kam ihm die Idee einer Ausstellung mit Fotokopien. Sie wurde gleichzeitig in 42 Galerien auf fünf Kontinenten eröffnet, es war eine Art Weltrekord, mit dem Parr ins Guinnessbuch der Rekorde einging. Später fasste er die 350 Kopien zu zehn Exemplaren zusammen, eins davon kaufte die Londoner Tate-Galerie.

Auch sein neuestes Buch, „Think of England“, ist wieder eine ironische Studie traditioneller englischer Aspekte und ihrer schäbigen Kehrseite. Die Wirkung der Fotos sei sowohl beruhigend als auch erschütternd, schrieb der Kritiker Stephen Pile. Die Fotos sind in dem Stil aufgenommen, der Parrs Markenzeichen geworden ist: Sie enthalten wegen des Rundblitzes keine Schatten, sondern grelle Farben, die oft überhaupt nicht zusammenpassen wie das Umschlagfoto des Buches. Es zeigt eine Frau im Liegestuhl, ihr Gesicht vom Union Jack verdeckt, und überall Blumen – auf dem Kleid, den Sandalen, auf dem Taschentuchpäckchen, auf dem Dach des Toilettenhäuschens.

Seit einigen Jahren macht Parr auch Dokumentarfilme für die BBC, doch seine Liebe gehört nach wie vor der Fotografie. „Die Fotografie ist mysteriös. Sie ist so einfach und so kompliziert. Alle zehn Jahre machst du ein Projekt, das ins Schwarze trifft. Für mich ist klar, dass mein Buch über die Liverpooler am Strand von New Brighton die besten Fotos enthält, die ich gemacht habe.“

Im nächsten Jahr, wenn Parr 50 wird, gibt es im Barbican Art Centre in London eine große Parr-Retrospektive. „Das Bedeutende an dieser Retrospektive ist“, sagt Brigitte Lardenois, „dass sie zeigen wird, wie oft Martin Parr Veränderungen auf dem Gebiet der Fotografie ausgelöst hat.“ Es wird Zeit, dass ihn auch in England eine größere Öffentlichkeit wahrnimmt.