Freie Sicht auf die Nordsee

Im Jahr 1980 brannte Zürich, und „die Bewegung“ forderte autonome Kultur statt Oper. Heute ist Zürich Trendstadt und hat mit Christoph Marthaler einen Schauspielhausdirektor, der für die Vermengung von Off- und Hochkultur steht. Heftige Kritik gibt’s trotzdem: diesmal von der Clubszene

von TOBI MÜLLER

Die Kultur und die Politik sind ja ein lustiges Paar. Jede möchte eigentlich lieber die andere sein. Kulturpolitik, Politkultur, politisierte Kultur und derlei Kopulationsvarianten mehr schwirren durch die Tagträume der beiden Liebenden. Das war natürlich nicht immer so, und immer wieder mal gibt’s auch Streit. Letztes Jahr war ein besonders kompliziertes Jahr für die beiden, besonders in Zürich.

Erstens fiel 2000 hier mit einer Art Jubiläum zusammen: 1980 galt „Züri brennt“, und die Opernhauskrawalle hatten nichts mit einem lustigen Kostümball zu tun. Die „Bewegung“, wie sie kurz genannt wird, ist nicht ganz unverantwortlich für die neue Unübersicht: Ihre Forderung nach mehr Subvention für autonome Räume statt für das Opernhaus, welche die Unruhen im Mai 80 entzündet hatte, führte letztlich dazu, dass die Grenzen von freier und etablierter Kunst zusehends nichtiger wurden. Genau das erschwert heute insbesondere dem Kulturzentrum Rote Fabrik, der sichtbarsten aus den Protesten hervorgegangenen Errungenschaft, ein Profil und Selbstverständnis. Denn Zürich zuckt seit ein paar Jahren hysterisch in einer Trendoffensive. Clubs sprießen, junge Firmen sprießen, Mieten, Medien, Kunst und alles andere mit „jung“ vorne dran wächst sprunghaft.

Zweitens kam der viel geliebte Theatermacher Christoph Marthaler als neuer Direktor des Schauspielhauses in seiner Geburtsstadt an. Und ausgerechnet Marthaler, dem beflissen Off-Kultur-Wurzeln in den Stammbaum gezeichnet werden, klotzte die Stadt eine neue Spielstätte ins Trendquartier Kreis 5: Der Schiffbau mit einer großen und einer mittleren Bühne, flankiert von Schicki-Kneipe und Jazzklub.

Marthaler kam mit einer exzellenten Leitungscrew, im Schlepptau etablierte Jungregisseure beiderlei Geschlechts. Doch die Erwartung, dass das experimentelle bis politische Theater oder die Popinszenierungen die Stadt brüskieren könnten, hat sich nicht erfüllt. Wer bellt, ist nicht das Establishment, sondern die real existierende Clubszene in der Stadt, die viel auf ihre Techno-Legacy hält.

20 Jahre Opernhauskrawalle, Marthaler im Schauspielhaus und eine Kultur wie Techno, die stets auch über ihren Mangel an politischem Gehalt und ihre Affirmation des Marktes definiert wurde – das ist jetzt aufeinander geprallt.

Der Popredakteur des Tages-Anzeigers monierte in einem langen Artikel, dass man im Schauspielhaus nun mit Nebenprogrammen sowohl der Klubszene als auch der Roten Fabrik das Wasser abzugraben gedenke. Theater, bleib, wo du bist. Anlass zum Platzverweis gab vor allem eine Nacht des renommierten Technolabels Mille Plateaux samt Poptheoretiker Diedrich Diederichsen – die schon andernorts in Theater verladen wurde – sowie die Einladung der Hamburger Filmemacherin Margit Czenki.

An die Gefährlichkeit der Ränder, der Nebenprogramme und Clubdinger hat man im Schauspielhaus offenbar nicht gedacht. Während das Kerngeschäft der Theateraufführungen gute bis sehr gute Auslastungen verzeichnet und kaum beanstandet wird, entlädt sich Kritik über die Special Events. Der Artikel hat sofort eine Debatte ausgelöst. Die Chefdramaturgin Stefanie Carp meldete sich zu Wort, auch Armin Kerber vom Theaterhaus Gessnerallee. Man spricht in der Szene über Theater. Oder vielmehr: über das Theater.

Der vorläufig letzte Höhepunkt fand im Programmheft zu „Rave“ von Rainald Goetz statt. Der Dramaturg Robert Koall, ein junger, cluberfahrener Mensch aus Hamburg, interviewt Philipp Meier, einen der innovativsten, gegenwärtigsten Technoaktivisten der Stadt. Man weist sich gegenseitig in die Schranken: Koall fragt, warum die reine Tanzveranstaltung mit inszenatorischem Mehrwert aufgeladen werden müsse, und Meier preist den Klub als das bessere Schauspielhaus, um am Ende staatliche Subvention zu fordern. Diese Situation erinnert formal exakt an 1980. Die inhaltlichen Unterschiede wiegen aber schwer: Das damalige Opernhaus taugte noch als ideologischer Widersacher, und autonome Räume hatten – im Gegensatz zu Klubs – tatsächlich kein Geld.

Fairerweise muss gesagt sein: Die Mietpreise werden selbst für kommerziellen Underground in Zürich prekär. Und klar ist, dass die Marthaler-Euphorie viele kleinere Institutionen zu kurz kommen lässt – insbesondere die Rote Fabrik, deren Antrag um eine Erhöhung der Subvention jüngst als einer der einzigen abgelehnt wurde. Gerechtfertigt ist auch, neu über die Geldverteilung nachzudenken, wenn plötzlich viele um die subkulturelle Klientel buhlen.

Im Herzen des Konflikts liegt aber ein Clash der Städte. Groß-Zürich hat nur mit viel gutem Willen rund eine Million Einwohner, ganz anders als Hamburg und Berlin, wo die neuen Theatermacher herkommen. Eine mittlere Großstadt wie Zürich also beschäftigt sich mehr mit Abgrenzungen von Szenen, mit einer unablässigen Distinktion, während in den Metropolen irgendwann die Sehnsucht nach Vernetzung überwiegt oder zumindest – auch politisch – dienlich erscheint.

Polemisch gesagt: In Zürich ist man schneller wer und möchte das auch bleiben. Dass die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur mancherorts niedergerissen sind, ist die Erfüllung eines Zürcher 80er-Slogans: Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer! Vielleicht müsste man sich heute mal gen Norden drehen.