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Kerle, Kerben, Kinder

Wahre Lokale (56): Die „Palette“ im westfälischen Emsdetten und ihre doppelte Geburt

„Ein Mann, der seiner Kneipe nicht treu ist, ist auch nicht besser als eine Frau“

Man sagt, das Gewehr sei die Braut des Soldaten. Kann sein. Doch die große Liebe eines intelligenten Mannes ist zweifellos seine Kneipe. Es ist ein ehernes Naturgesetz: Echte Männer haben Stammkneipen. Setz einen Kerl in eine neue Stadt, und noch bevor er den Weg zum nächsten Supermarkt kennt, hat er schon seine Tränke gefunden. Und die läuft er immer wieder an. In „A Drink before the War“ hat es Dennis Lehane auf den Punkt gebracht. Er lässt den Vater seines Helden sagen: „Ein Mann, der seiner Kneipe nicht treu ist, ist auch nicht besser als eine Frau.“

Wie bei jeder großen und tiefen Leidenschaft gibt es natürlich auch hier Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz. Meine Liebe begann mit Schmerzen, mit höllischen Schmerzen, denn beim Abbruch der alten CDU-Geschäftsstelle, die mein Freund Konstantinos „Konscho“ Karatassios in eine Pinte verwandeln wollte, rutschte mir die Bohrmaschine ab und zerfetzte meinen linken Daumennagel. Damit war die Arbeit für mich erst mal erledigt. Aber es waren noch genug Kumpel da, die weitermalochten. Uns alle hatte die Aussicht, einer aus unserer Clique könnte ein Lokal aufmachen, elektrisiert. Ich war extra für eine Woche aus Berlin angereist, um zu helfen. Denn Emsdetten ist zwar nur ein Kaff in der westfälischen Tristesse und nicht weiter der Rede wert, aber ich bin dort geboren und viele meiner alten Freunde leben noch da.

Den Tag der Eröffnung seiner „Palette“ hatte Konscho auf den 16. August 1985 festgelegt. Mein WG-Genosse Manfred Kriener und ich machten uns einen Tag vorher auf den Weg. Und wieder Schmerzen: Auf der Transitstrecke küsste unser Auspuff den Asphalt. Notdürftig geflickt und mit röhrendem Getöse kamen wir erst spät in der Nacht in Emsdetten an. Konscho war nicht zu Hause. Seine hochschwangere Freundin Moni öffnete uns die Tür, und das Erste, was sie sagte, war: „Ich glaub, mir ist gerade die Fruchtblase geplatzt.“ Damit können Männer nicht umgehen, das ist unbekanntes Territorium. Verlegenes Schweigen. „Na ja“, sagte Moni, „ich leg mich mal wieder hin, Konscho müsste ja bald kommen.“ Er kam um vier Uhr morgens. Fix und fertig und immer noch gestresst. Nach der Arbeit hatten sie das erste Fass angestochen. Später erfuhren wir, dass die Polizei genau darauf gewartet hatte. Hermann, der mit renovierte, wurde erwischt, Führerschein weg. Polizisten sind so ähnlich wie Soldaten.

Nach ein paar Stunden Schlaf war es dann so weit. Aber zunächst mussten wir noch zum Großmarkt, „harte Sachen“ besorgen. Nachdem wir den Fiat mit hochgeistigen Getränken bis unters Dach voll gepackt hatten, zurück zur „Palette“, alles schön aufgebaut und dann wollte Konscho nur noch eben schnell nach Hause, um sich umzuziehen, und im Krankenhaus musste er auch noch kurz vorbeischauen, da war Moni nämlich inzwischen gelandet. Ich blieb, probierte die Zapfhähne aus, machte Eis, kontrollierte die Gläser und bekam allmählich ein Gefühl für die Kneipe. Konscho hatte dem Zeitgeist mutig getrotzt. Mitte der 80er gab es überall diese widerlich grellen Neonschuppen. Aufdringlich wie ein Bankiergrinsen. Chrom und Plastik, kalt wie ein Grabstein. Die „Palette“ dagegen hatte einen lange gereiften Barschrank, einen nicht zu hellen Holzfußboden, weiße Wände und dunkelblaue Fensterrahmen, dezentes Licht und Tische und Stühle, die nicht zusammenpassten. Konschos geniales Konzept war: kein Konzept!

Dann kamen die ersten Gäste. Ich fing an zu zapfen. Es wurde richtig voll, und alle fragten nach dem Wirt. Konscho kam nicht. Pegelstand und Stimmung stiegen rapide. Konscho fehlte immer noch. Dann ein kleiner Tumult und danach ein großes Gejohle an der Eingangstür. Der Wirt war da: Im hautengen Tiger-T-Shirt und mit einem Polaroid in der Hand. Er war mitten in die Geburt seines Sohnes gerauscht. Das Foto wurde herumgereicht und Konschos Timing bewundert: Kind und Kneipe an einem Tag, nicht schlecht.

Die „Palette“ war von Anfang an ein Renner. Die Leute spüren einfach, wenn ein Lokal eine Seele hat. Ich kam immer gern. In Berlin nervten diese New-Wave-Schuppen. Durchgestylte Zombies schlürfen klebrige Cocktails. Wer einmal Heiligabend in der „Palette“ sein kühles Bier getrunken hat, weiß, was ein Lokal ist, und er weiß, was lebendige Menschen sind.

Allein die Tage sind vorbei. Die „Palette“ liegt im Sterben, ach was, sie verrottet schon. Der Besitzer der Immobilie in der Kirchstraße 15 ist von der Sorte „gieriger Spekulant“. Er weigert sich seit Jahren, irgendetwas an dem Haus zu machen. Konscho hat versucht, es zu kaufen, aber der Gierschlund will nicht, er wartet ab. Das Grundstück steigt ständig im Wert, und allein das bringt die dicke Kohle. Konscho hat längst ein neues Lokal, die „Palette“ betreibt er nur noch nebenbei. Der Mann ist wie eine Mischung aus Alexis Sorbas und Ernest Hemingway: Immer Spaß an der Sache, und niemals aufgeben. Und jedes Mal, wenn ich mit dem Zeigefinger über meinen linken Daumennagel streiche, fühle ich eine tiefe Kerbe.

KARL WEGMANN

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