Unklarheit über die Zahl der Opfer

Der indische Verteidigungsminister befürchtet fünfmal so viele Erdbebentote wie bisher geschätzt wurden. Die Katastrophe führt nicht nur zu einem wirtschaftlichen Rückschlag, sondern könnte auch die Dürreprobleme der Region noch verschärfen

aus Ahmedabad BERNARD IMHASLY

Die Zahl der bei dem Erdbeben am Freitag im westindischen Gujarat getöteten Menschen schätzt Indiens Verteidigungsminister George Fernandes jetzt auf bis zu 100.000. Bisher hatte er von 20.000 gesprochen. Gegenüber der BBC sprach er gestern von 200.000 Verletzten. Er bezog sich bei seinen Angaben, die er später als „persönliche Einschätzung“ bezeichnete, auf Aufklärungsflüge. Premierminister Atal Behari Vajpayee und Gujarats Regionalregierung wollten sich nicht auf eine Zahl festlegen. Bisher wurden weniger als 7.000 Leichen geborgen, über die seit Sonntag keine Zahlen mehr veröffentlich werden. Die Zahl der Vermissten wird in Medienberichten mit 100.000 angegeben.

Im Unterschied zu den schwer zerstörten Gebieten im Westen Gujarats sieht das Leben in der Wirtschaftsmetropole Ahmedabad auf den ersten Blick wieder normal aus. Nachdem Ambulanzen und Militärkonvois tagelang das Straßenbild prägten, sind die Hauptstraßen jetzt wieder in die Abgase von Rollern und Motorrad-Rikschas gehüllt. Doch das übliche Verkehrschaos kommt auch daher, dass viele Straßen wegen Einsturzgefahr der Häuser gesperrt sind. Neben den hundert völlig zerstörten Gebäuden haben viele Bauten Risse. Außer in der intakt gebliebenen Altstadt schlafen die Leute immer noch im Freien.

Während die Schulen für eine Woche geschlossen sind, setzen sich die meisten Angestellten vor ihren Büros ins Gras, weil sich niemand hineinwagt. Der Industrieverband Ficci schätzt, dass allein der Arbeitsausfall den Bundesstaat Gujarat täglich 250 Millionen Mark kostet. Die Gesamtkosten für die Wirtschaft sind viel höher. Die meisten Fabriken, Pipelines, Stromleitungen und Hafenanlagen haben das Erdbeben weitgehend unbeschädigt überstanden. Doch die Zerstörung der ökonomischen Substanz von Millionen Menschen wird Kaufkraft und Nachfrage stark einschränken. Gujarat ist einer der reichsten Staaten Indiens mit moderner Industrie. Allein in diesem Sektor wird der Steuerverlust auf 10 Milliarden Mark geschätzt.

In den restlichen zwei Dritteln des Staats lebt eine Mehrheit armer Bauern, Hirten und Kleinhändler. 70 Prozent der Bevölkerung und über 90 Prozent des landwirtschaftlichen Bodens sind von Regenwasser abhängig, das nur eine Ernte im Jahr ermöglich. Wenn wie in den letzten Jahren der Monsun ausbleibt, kommt es zu Dürren, hinter denen der Hunger lauert. Gestern hatte die Regierung eigentlich ein Wasserschutzprogramm lancieren wollen, das alle Energien nach zwei schlechten Monsunjahren auf die drohende Dürre konzentrieren sollte. Mit dem Beben verliert dies nun seine Priorität und wird die Krise vielleicht noch verschlimmern.

Die regelmäßig wiederkehrenden Dürren und Fluten – vor zwei Jahren zerstörte ein Wirbelsturm große Teile von Gujarats Küste – bescheren den meisten Bewohnern ein Leben am Rand des Überlebens. Dies erklärt aber auch ihre Leidensfähigkeit und Zähigkeit. Bereits zwei Tage nach dem Beben waren Bewohner aus den nahen Slums dabei, die Schutthalden im trockenen Flussbett des Sabarmati-Flusses nach Verwertbarem zu sortieren. Dort wird der Schutt der zerstörten Gebäude Ahmedabads abgeladen. Männer und Frauen schlagen hier gemeinsam die Moniereisen aus dem Beton, um sie als Altmetall zu verkaufen.