„Deutschland sollte Libero spielen“

Interview SABINE HERRE
und JENS KÖNIG

taz: Heute treffen sich Jacques Chirac und Gerhard Schröder zu einem Versöhnungsgipfel. Was muss denn miteinander versöhnt werden?

Rudolf von Thadden: Gar nichts.

Aha. Und warum treffen sich die beiden dann?

Schröder und Chirac müssen nachsitzen. Sie arbeiten das auf, was beim EU-Gipfel in Nizza liegen geblieben ist.

Das ist freundlich formuliert. Zwischen den Deutschen und den Franzosen gab es in Nizza gehörig Ärger.

Ärger gibt es immer. Keine zwischenstaatlichen Beziehungen ohne Konflikte. Ich werfe Deutschen und Franzosen schon seit längerem vor, dass ihr Verhältnis viel zu harmoniegeleitet ist. Es wird der Eindruck erweckt, als sei an die Stelle der alten deutsch-französischen Erbfeindschaft eine Liebesehe getreten. In der Politik gibt es jedoch keine Liebe.

Der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler müssen sich also nicht mögen?

Nein, sie müssen sich verstehen. Das ist viel schwieriger, als sich zu mögen. Denn dazu muss man erstens die Sprache des anderen können, zweitens etwas von seiner Mentalität verstehen und drittens über die Geschichte des anderen Landes Bescheid wissen.

Das sieht für Schröder ja nicht gut aus. Er spricht weder Französisch noch steht er im Ruf, ein Frankreich-Kenner zu sein.

Aber Schröder ist klug. Er hat mit Brigitte Sauzay eine Französin zu seiner Beraterin gemacht, und er zeigt stets die Bereitschaft zuzuhören und dazuzulernen. Das ist sehr viel. Nicht jeder kann ein Frankreich-Kenner sein. Außerdem weiß Schröder sehr genau, dass er für einen Generationswechsel steht. Zwischen Deutschland und Frankreich geht es heute nicht mehr primär um Geschichte und Aussöhnung.

Ist die seit 1963 institutionalisierte Freundschaft zwischen den beiden Ländern damit in Gefahr?

Nein. Aber das deutsch-französische Verhältnis muss erneuert werden. Gerhard Schröder sprach vor kurzem von der Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich neu zu definieren. Er hat Recht.

Was heißt Neudefinition? Dass die alten Fundamente nicht mehr tragen?

Darauf gibt es eine einfache und eine schwierige Antwort.

Fangen Sie mit der einfachen an.

Der deutsch-französische Dialog steht unter Begründungszwang. Meine Kinder nehmen mir nicht mehr ab, wenn ich in der Sprache de Gaulles sage: Die Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist privilegiert. Sie fordern zu Recht, dass ich begründe, warum der deutsch-französische Dialog wichtiger sein soll als der deutsch-englische oder der deutsch-polnische.

Ist er denn noch wichtiger?

Ja, aber nur in einer Hinsicht: Unsere beiden Völker können auf einen jahrhundertelangen Dialog verweisen. Wir sind viel mehr aufeinander eingespielt als andere. Voltaire war in Potsdam am Hofe des preußischen Königs. Calvin hat gemeinsam mit Luther die Reformation fortgesetzt. Ich wüsste nichts Vergleichbares zwischen Deutschland und Bulgarien, nicht einmal zwischen Deutschland und England.

Die Deutschen und Franzosen scheint das nicht zu interessieren. Immer weniger sprechen überhaupt die Sprache des anderen. Die Zahl der Austauschprogramme geht zurück.

Das zeigt nur, dass sich der Stellenwert der deutsch-französischen Beziehungen nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus verändert hat. Die Globalisierung führt dazu, dass Englisch die weltweit dominierende Sprache geworden ist. Wenn sich junge Banker aus Deutschland und Frankreich treffen, sprechen sie Englisch miteinander.

Und ausgerechnet in diesem Moment sollen die Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen auf eine neue Stufe gestellt werden?

Ja, so paradox das klingt. Die Erneuerung unserer Beziehungen dürfen wir nicht allein den Regierungen überlassen. Die Zivilgesellschaften beider Länder müssen stärker als bisher miteinander ins Gespräch kommen: über Städtepartnerschaften, Universitätspartnerschaften, über den Austausch auf allen Ebenen, bis in die Medien hinein. Der deutsch-französischer Dialog ist heute genauso notwendig wie nach dem Krieg – aber er ist kein Versöhnungsdialog mehr, sondern er muss ein gesellschaftlicher Erneuerungsdialog sein.

Sie sind uns noch eine Antwort schuldig. Was ist so schwierig an einer Neudefinition dieser Partnerschaft?

Sie wird nur erfolgreich sein, wenn es auf beiden Seiten eine Bereitschaft zur Traditionskritik gibt. Ich betone: auf beiden Seiten.

Was heißt das?

Nach dem Kriege war es verständlicherweise so, dass die größere Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte von den Deutschen erwartet wurde. Aber heute muss sich auch Frankreich seiner Vergangenheit stellen. Ich erwarte von den Franzosen einen kritischen Umgang mit ihrem undemokratischen Vichy-Regime in der deutschen Besatzungszeit und dem Algerien-Krieg. Ein Franzose, der sich dem verweigert, ist im Grunde nicht besser als ein Deutscher, der sich nicht kritisch mit Hitler und der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzt.

Bisher hieß es immer, Deutschland sei mehr auf Frankreich angewiesen als Frankreich auf Deutschland. Stimmt das noch?

Manche Linke in Deutschland behaupten das ja nach wie vor.

Joschka Fischer zum Beispiel.

Ich sage immer: Deutschland braucht Frankreich, ja. Aber Frankreich braucht auch Deutschland. Ich nenne das das Gleichgewicht der historisch-politischen Potenzen der beiden Nationen. Ohne diese Parität zwischen Deutschland und Frankreich wird es keine europäische Gemeinschaft geben. Aus diesem Grund war ich auch dagegen, dass Deutschland in Nizza auf mehr Stimmen im Europäischen Ministerrat bestanden hat als Frankreich.

Deutschland ist zur neuen Zentralmacht in Europa geworden. Wie sehr irritiert das die Franzosen?

Deutschland ist mit der Vereinigung nicht nur größer geworden, es hat auch an Handlungsspielraum gewonnen. Die Franzosen registrieren das ganz genau.

Haben sie Angst, dass Deutschland zu mächtig wird?

Die Franzosen haben heute schon das Gefühl, sie seien die Schwächeren. Aber das sind Befürchtungen, die auf die classe politique in Frankreich beschränkt sind. Das französische Volk denkt da viel europäischer. Der Machtzuwachs der Deutschen ist für die einfachen Franzosen viel weniger ein Problem.

Wie sollte Deutschland mit diesen französischen Ängsten umgehen?

Geschichtsbewusst. Deutschland sollte bescheiden bleiben und nicht etwa auftrumpfen. Aber da sehe ich bei der Schröder-Regierung keine Gefahr. In der Europäischen Union ist es wie im Fußball: Das Schlimmste ist, wenn alle zugleich stürmen und Tore schießen wollen. Deutschland sollte in Europa die Rolle des Libero übernehmen und die Bälle verteilen. Die Franzosen mit ihrer Liebe zu den Platinis sollten ruhig mehr Tore schießen als wir. Die anderen wissen ohnehin, dass Deutschland das stärkste Land in Europa ist.

Libero hin, Libero her. Haben Deutschland und Frankreich denn überhaupt noch dieselben Vorstellungen von der Zukunft Europas?

Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen, aber sie sind überbrückbar. Voraussetzung dafür ist, dass sich beide Seiten bewegen. Die Franzosen sollten wegkommen von ihrem strengen Zentralismus und aufgeschlossener werden für Regionen. Die Deutschen sollten umgekehrt die Nationalstaaten als Wirklichkeit ernster nehmen. Das Europa, das wir bauen, wird nicht nur ein Europa der Bürger, sondern auch ein Europa der Nationen sein. Und wir sollten den jeweils anderen besser verstehen lernen.

Gibt es zu viele Missverständnisse?

Ja. Wir müssen alle lernen, dass wir mit zwei Faktoren leben, egal, wovon wir träumen: erstens mit der Geografie eines Landes und zweitens mit dessen Geschichte. Es hat keinen Sinn, wenn Holländer sich so verhalten wie Schweizer. Sie haben keine Alpen.

Und was fehlt den Deutschen?

Ein positives Verhältnis zur Nation. Wir tun uns bekanntlich schwer damit. In Frankreich hat die Nation einen hohen Stellenwert. Sie ist die Trägerin der Französischen Revolution von 1789. Die Nation war in Frankreich schon immer ein linker Begriff. Und gerade weil das so ist, fällt es den Franzosen schwer, die Nation zu relativieren. Sie können eigentlich erst dann voll zu Europa ja sagen, wenn Europa dieselben Garantien bietet wie die französische Republik.

Aber versäumt Frankreich somit nicht die Chancen, die sich durch die EU-Osterweiterung bieten?

Man kann, wie gesagt, nicht gegen die Geografie leben. Von der EU-Osterweiterung profitiert Deutschland mehr als Frankreich. Die geografische Nähe Deutschlands zu Polen bedeutet automatisch einen Vorsprung für die Deutschen. Das europäische Zentrum verlagert sich von Paris nach Berlin.

Jetzt reden Sie wie ein Franzose.

Nein, ich will auf das Gegenteil hinaus. Gerade weil diese Entwicklung so verläuft, müssen die Franzosen an der deutsch-polnischen Kooperation beteiligt werden. Frankreich muss von der EU-Osterweiterung ebenfalls profitieren. Ich möchte nicht, dass bei den Franzosen das Gefühl aufkommt, dass sie abseits stehen, bloß weil ihr Land geografisch am Rande liegt. Ich sage den Franzosen: Macht mit!