Bremer Hörsturz hat jetzt Struktur

■ Aus Radio Bremen 2 wird das NordWest-Radio, Hansa- und Melodiewelle verschmelzen zu BremenEins. Der Rundfunk- und Verwaltungsrat des Senders stimmten den Plänen des Direktoriums zu

In den letzten Wochen hat Roswitha Erlenwein so viel Post wie nie bekommen. Die Fangemeinde des Kulturprogramms Radio Bremen 2 (RB 2) machte mobil und überschüttet auch die Rundfunkratsvorsitzende mit Briefen. Mitte März plant eine Initiative namens Hörsturz sogar eine Art Benefizkonzert zu Gunsten des Programms. Doch Roswitha Erlenwein seufzt: „Es wäre besser gewesen, wenn diese Briefe früher gekommen wären.“ Denn der Kuchen ist gegessen. RB-Direktorium, Rundfunk- und Verwaltungsrat vollstrecken die Spar- oder Hungerkur in Folge der Kürzung des ARD-Finanzausgleichs und geben sich jetzt alle Mühe, ihre Pläne als Neuanfang zu verkaufen.

In einem Sitzungsmarathon stellten RB-Intendant Heinz Glässgen und die Programmdirektorin Claudia Schreiner das neue Bremer Radioprofil seit Montag allen, die es hören wollten, vor. Ab Mai sollen demnach die Melodiewelle Radio Bremen 3 und die durch Hörerverlus-te in Mitleidenschaft gezogene „Hansawelle“ zum neuen Programm BremenEins für die über 40-Jährigen verschmolzen werden. Und ab September soll das gemeinsam von RB und dem NDR veranstaltete Kultur- und Informationsprogramm NordWest-Radio auf Sendung gehen und das bisherige zweite Programm ersetzen. Radio Bremen 4 soll fortan als Vollprogramm BremenVier für die unter 40-Jährigen fast so bleiben, wie es ist und wie BremenEins ein Stadtfunk vor allem für Bremen und Bremerhaven sein. Wann jedoch das Funkhaus Europa des WDR, für das RB 2 schon zuliefert, ganztägig auf der ab September freien Melodiewelle gesendet wird, ist noch offen. All dies ließ sich der Rundfunkrat fast sechs Stunden lang erläutern und nahm zur Kenntnis, dass Radio Bremen nach Glässgens Angaben am Ende statt vier nur noch zweieinhalb eigene Programme anbieten wird. Und wer von den GremienvertreterInnen zuvor noch nach Alternativen fragen wollte, musste feststellen: Es gibt keine.

Kratzt man an der Oberfläche oder wartet geduldig, dann können Glässgen und Schreiner aus der Haut fahren. „Wir können nicht mehr alles fortsetzen – wer das erst jetzt merkt, ist spät dran“, frotzelt Glässgen wohl auch gegen Sankt-Floriane im eigenen Haus. „Ohne eine Kooperation könnten wir gar kein Kulturradio mehr anbieten“, sagt Schreiner energisch. Doch sie weiß: „Auch das NordWest-Radio wird ein Minderheitenprogramm sein.“ Trotzdem hat sie ehrgeizige Pläne damit – zu ehrgeizige, wie manche Rundfunkräte finden.

Bislang verbraucht Radio Bremen 2 mit rund 25 Millionen Mark etwa die Hälfte des RB-Hörfunketats. Das Programm erreicht laut Marktanalysen in Bremen täglich 13.000 HörerInnen (1,4 Prozent) und im Sendegebiet 23.000 (0,4 Prozent) und spielt zugleich eine Rolle als Kulturveranstalter. Das neue, wochentags aus Magazinen und täglich drei Musiksendungen bestehende NordWest-Radio soll mittelfristig im Sendegebiet einen Marktanteil von 170.000 HörerInnen (drei Prozent) erreichen. Und das mit weniger Personal und etwa der Hälfte des Geldes.

In Spitzenzeiten haben nach Glässgens Angaben – inklusive „Bodenpersonal“ – bis zu 135 feste und freie MitarbeiterInnen in Voll- oder Teilzeit Kulturprogramm gemacht. Das NordWest-Radio soll mit zwölf Programm-RedakteurInnen auskommen und sich zusätzlich bei sechs KorrespondentInnen-Büros des NDR sowie den neuen RB-Fachredaktionen bedienen, die allen zweieinhalb Hörfunkprogrammen und eines Tages auch dem Fernsehen Informationen liefern. Wegen dieses kompletten Umbaus im Sender konnte Glässgen auch auf Nachfrage nicht genau beziffern, wie viele Menschen künftig für das NordWest-Radio arbeiten werden. Er blickt nur aufs Ganze: Von den einstmals 680 Planstellen im gesamten Sender sind jetzt noch 520 übrig. In den vergangenen zwei Jahren sind so viele MitarbeiterInnen gegangen (worden), dass Glässgen schon wieder an Neueinstellungen oder neue Jobs für Freie in einzelnen Bereichen denkt. Trotzdem werden in den nächsten Jahren weitere 60 Stellen in anderen Bereichen gestrichen. Auf betriebsbedingte Kündigungen will Glässgen aber auch über 2001 hinaus verzichten. Unterdessen fordert der Personalrat weiterhin ein Personalentwicklungskonzept. Die Fluktuation in den nächsten Jahren sei nach Angaben des Personalratsvorsitzenden Bernd Graul noch nicht beziffert. Graul fordert klare Zahlen, um überhaupt planen zu können – Umschulungen, interne Ausbildung und das, was unter dem Stichwort „VW-Modell“ eine intelligente Verteilung von Arbeitszeit nennt.

Doch erstmal wird das wenige Geld verteilt. „Zwölf Millionen Mark mindestens“, betont Verwaltungsratsvorsitzender Thomas von der Vring, stehen für das neue NordWest-Radio zur Verfügung. Außerdem steuert Radio Bremen rund drei Millionen Mark Produktionskosten bei, der NDR trägt zusätzlich die Kosten für die KorrespondentInnen zwischen Wilhelmshaven und Vechta, will aber über Zahlen keine Angaben machen. Die NDR-Gremien, teilte Sprecher Martin Gartzke auf Anfrage mit, werden sich erst damit befassen, wenn der Vertrag zwischen den Sendern im Detail ausgehandelt ist. Das soll, hofft Glässgen, noch vor Ostern der Fall sein.

Minderheit hin oder her – von 0,4 auf drei Prozent Marktanteil zu kommen, ist nahezu eine Verachtfachung. Die will Claudia Schreiner vor allem dadurch erreichen, dass Emden, Vechta oder Bremervörde im Programm vorkommen. „Das war bisher nicht so.“ Außerdem soll „zu anstrengende Musik“ aus dem Vormittagsprogramm verschwinden und eventuell im Wochenend- und Abendprogramm eine Nische finden. Aber das ist genauso offen wie die Zukunft Bremer Musikproduktionen und Konzertmitschnitte. Gleiches gilt für die Zahl der Übernahmen und Wiederholungen. Nur eins scheint festzustehen: Das NordWest-Radio wird, die kulturbeflissenen PuristInnen mag's vergraulen, zwischen den Beiträgen über Politik und Kultur auch Werbung senden. „Wir brauchen jeden Pfennig“, sagt von der Vring. Und die bekennende Radio-Bremen-2-Hörerin Erlenwein ergänzt: „Die verminderten Ressourcen müssen nicht dazu führen, dass es ein schlechteres Radio wird. Es wird anders.“

Doch interessiert sich Frau Zeven für das kulturelle Geschehen bei Herrn Emden? Wie kann der radiophone Kultur-vor-Ort-Spagat gelingen, nach dem das Ereignis X in Westerstede die gleiche Relevanz hat wie das Projekt Y in Bremen-Nord? Glässgen hat bisher nicht viel mehr als die Hoffnung, dass es so etwas wie eine gemeinsame Identität im Nordwesten gibt. Mindestens so wichtig wie das Wort ist ohnehin die Musik. Und die soll als Mischung von allem außer Hits stärker zum Nebenbeihören geeignet sein und nicht mehr so zum Zuhören zwingen wie die im Programmschema für verzichtbar gehaltenen „anstrengenden Klangexperimente während des Tages“.

Die Initiative Hörsturz, eine kleine, aber wachsende Gemeinde aktiver RadiohörerInnen will unterdessen retten, was zu retten ist (www.hoersturz.org). „Wir wollen“, sagt die Sprecherin Regina Dietzold, „nicht gegen Glässgen arbeiten, aber so viel wie möglich Radiokultur erhalten.“ Und Roswitha Erlenwein weiter Briefe schreiben. Christoph Köster