Scheitern ist doch keine Chance

Wie man ein Theater erfolgreich zugrunde richtet, am Beispiel des Volkstheaters in Rostock: Nach Plänen einer städtischen Sparkommission soll das Theater im Sommer 2002 geschlossen werden. Da hilft wahrscheinlich auch nicht Daniel Calls ordentliche Adaption von Konrad Wolfs „Solo Sunny“

von NIKOLAUS MERCK

Eine Stadt kann ihr Theater unterschiedlich zugrunde richten. Am einfachsten ist es, Schritt für Schritt den Etat zu kürzen. Dann behauptet man, die immensen Subventionen seien nicht mehr aufzubringen, nennt das Ganze Umbau der Theaterstruktur und zuckt bedauernd mit den Schultern, wenn das ausblutende Theater wie ein Delinquent auf der Streckbank aufheult.

Man kann den Hebel auch im Theater selbst ansetzen. Am besten an seiner Spitze. Indem man, sagen wir, alle drei Jahre den Intendanten wechselt. Dies ist die eleganteste Variante. Die Zuschauer verlieren durch die dauernden Richtungswechsel die Lust am Theater und die leicht hysterisierbaren Künstler werden kopfscheu gemacht. Das wiederum schwächt die künstlerischen Leistungen, die Folge: Es kommen noch weniger Zuschauer. Dann können die politischen Kunstverweser ihre Hände in Unschuld waschen und behaupten, das Theater spiele an den Publikumswünschen vorbei.

Neben diesen beiden Königswegen gibt es fürs Meucheln auch noch einige flankierende, gleichwohl durchschlagende Maßnahmen. Gern etwa verbannt man die Kunst in abträgliche Gehäuse, Blechhallen oder halb zerfallene Gewerkschaftshäuser. Achtet man außerdem darauf, dass der Orchestergraben möglichst klein, dafür dauernd überhitzt ist und die Bühnentechnik jeder TÜV-Abnahme spottet, wird der Erfolg nicht ausbleiben. Man braucht bloß abzuwarten, bis alle renommierten Künstler fluchtartig die Stadt verlassen haben und zusätzliche Bühnentechniker, also mehr Geld für Personal, benötigt werden, um dem Theater mangelnde Ausstrahlung und böswillige Verschwendung öffentlicher Mittel nachzuweisen.

Solche Zustände sind weithin üblich in den Provinzen des deutschen Kulturlandes. Vor allem aber in Rostock. Wer dort Intendant ist, muss schon die Schlingensief-Parole „Scheitern als Chance“ zum Lebensprinzip erhoben haben. Seit 1989 verschliss das Volkstheater bereits fünf Intendanten. Der sechste, Michael W. Schlicht, seit 1997 amtierend, ging bis an die Grenzen des Erträglichen, um wieder mehr Zuschauer in das Theater zu bekommen. Vornehmlich Operette, Musicals und „Zauberflöte“ ließ Schlicht im maroden Großen Haus ansetzen, niederdeutsches Volkstheater für die Alten, Märchen für die Kleinen, und künstlerisch Ambitioniertes nur im kleinsten, 40 Zuschauer fassenden Saal. Erfolglos.

Die Rettung sollte jetzt „Solo Sunny“ bringen. Wolfgang Kohlhaases Drehbuch zum letzten Film des 1982 verstorbenen Regisseurs Konrad Wolf verwandelten Autorregisseur Daniel Call und sein Regiekombattant Marcus Lachmann in einen Singabend mit Liebesleid und DDR-Tristesse. Die Geschichte von Ingrid „Sunny“ Sommer, die den Traum vom Starruhm, eine unglückliche Liebe zur Diplomphilosophie und die Enge der egalitären Gesellschaft ramponiert, aber ungebrochen übersteht, funktioniert dabei glänzend als Antidepressivum für die gleichermaßen von Zukunftsängsten gebeutelten Zuschauer wie Schauspieler. Im proppevollen Zuschauersaal nicken wonnevolle Köpfe im Takt, wenn sich die junge Spielschar, unterstützt von einer fünfköpfigen Combo, wacker über die einschlägigen „Sieben Brücken“ kämpft.

Die behauptete Auseinandersetzung mit den Fährnissen des Hochindividualismus – nach dem Prinzip: Ob Ost, ob West, die Unangepassten haben es immer schwer – blieb die Unternehmung aber schuldig. Denn abgesehen von der geistigen Unschärfe dieser These, gibt es auf der Bühne gar keine Gesellschaft. Nur einen bunten Haufen von der Regie allein gelassener Schauspieler, die sich zwischen den Gesängen als Zitatschleudern betätigen müssen. Noch ärger im zweiten Teil, wenn Daniel Call den Conferencier die Wolf’schen Filmbilder garniert mit naseweisen Bier-Kommentaren referieren lässt. Dem Gefühl, hier sei eine kreischige Call-Trash-Familie unversehens in die stille und ganz und gar unverstandene DDR-Welt zurückgebeamt worden, kann auch Vera Teltz als Sunny nicht aufhelfen. Die ist zwar eine echte Sympathieträgerin mit Wucht im Blick und köstlichem Talent zur Marilyn-Monroe-Parodie in den Gliedern, bloß warum dieses knallige Temperament die Welt der Bühne nicht mit dem Chefsessel eines Start-up-Unternehmens vertauscht, wird nicht deutlich.

Gleichwohl mochte Intendant Schlicht an seine Chance im Scheitern schon vor der „Solo-Sunny“-Premiere nicht mehr glauben. Einem seitens der Stadt angekündigten Rausschmiss zuvorkommend, gab er seinen Rückzug zum Sommer 2002 bekannt. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Wegen des katastrophalen Umgangs mit dem Theater folgte ihm noch am gleichen Tag die PDS-Vorsitzende des städtischen Kulturausschusses nach. Und Ende Januar enthüllten die städtischen Sparkommissare endlich ihre geheimsten Pläne: Schließung des Volkstheaters zum Sommer 2002. Während das Orchester gleichsam als Pausenfüller von der städtischen Messegesellschaft übernommen werden soll, werden die unkündbaren Schauspieler in eine freie Truppe abgeschoben, die sich bisher schon als Auffangbecken für gekündigte Altmimen bewährte.

Noch bedarf dieser Vorschlag der Zustimmung der Bürgerschaft, aber schon jetzt darf man den Strategen in der Hansestadt gratulieren. Mit ihrem Vorschlag ist Rostock, ungeachtet der harten Konkurrenz aus Frankfurt (Oder) und anderswo in Brandenburg, das heruntergewirtschaftetste und gefährdetste Theater in der deutschen Provinz geworden.