In der Mitte von Nirgendwo

Die CDU ist politisch entgleist, steht nicht „mitten im Leben“. Und das schon lange vor dem Fahndungsplakat. Eine falsche politische Ästhetik gefährdet die Zukunft der Partei

In den ersten Jahren einer Opposition ist die Versuchung groß, die Niederlage als Betriebsunfall zu sehen

Die ersten Jahre einer frisch gewählten Opposition waren immer eine verlorene Zeit, unabhängig von Personen und Umständen. Diese Erfahrung hätte die CDU vermutlich auch ohne Spendenaffäre gemacht. Andererseits: Kohl und die Folgen allein erklären nicht ihren gegenwärtigen Zustand. Aus Gründen, die etwas mit Personen, Strategie und politischer Ästhetik zu tun haben, ist die CDU gegenwärtig weiter vom rettenden Ufer entfernt als je zuvor. Sie dümpelt irgendwo in der Mitte von Nirgendwo. Wie konnte es so kommen?

I. Die Personen: Die Wahl von Angela Merkel galt vielen als Zeichen der Erneuerung. Die CDU hatte ein frisches Gesicht. Es traf sich gut, dass sie politisch nicht festzulegen war, dafür aber die unterschiedlichsten Projektionen zu bündeln verstand. Doch irgendwie konnte oder wollte sie den Wind der fast plebiszitären Zustimmung, der sie ins Amt getragen hatte, nicht mitnehmen in die Segel der CDU, um Fahrt zu gewinnen für jene Erneuerung, die sie vorher selbst gefordert hatte. Stattdessen bot sie bald die alten Reflexe und Rituale, viele Worte, wenig Aussagen, und ihre Urteile klingen bisweilen wie Tagesbefehle. Die Rücksicht auf Tabu-Minen in einem für sie unübersichtlichem Gelände kann diesen Wandel kaum erklären. Auch von der CSU hat sie nichts Böses zu erwarten: Nie war diese so sanft, leise und rücksichtsvoll wie heute, und inzwischen haben sie und ihr Vorsitzender auch andere Sorgen. Niemand also in der Union hat sie offen in Frage gestellt. Ist genau das des Pudels Kern? Keiner sagt es, aber viele denken es: In einer schwachen Stunde habe sie die CDU emotional überwältigt, in einem Augenblick, als diese an Haupt und Gliedern nur bedingt einsatzbereit gewesen sei. Eine Vorsitzende nicht der Wahl, sondern eines emotionalen Putsches? Solche Zweifel wirken erst dann wie ein lähmendes Gift, wenn sie angenommen und verinnerlicht werden. Könnte es sein, dass die Vorsitzende der CDU dieses Gefühl irgendwie teilt: dass sie von weither komme und eigentlich fremd sei in dieser Partei? Und dass sie eben deshalb durch ihre forsches Reden und Auftreten sich und allen beweisen will, dass sie schon immer dazugehört habe? So inszeniert sie sich selbst zu einem ideellen Gesamtkunstwerk der CDU aller Zeiten, ständig bemüht und auf der Suche nach dem, was man korrekterweise und ohne Schaden für die Partei und die eigene Karriere jeweils zu sagen hat. Das konnte nur schief gehen. Es schadet der Glaubwürdigkeit, lässt das Charisma verblassen, und das alles ohne Erfolg, denn die CDU hat keine Parteilinie, an die man sich anpassen könnte. So kommt es, wie es kommen musste: Am Ende kann sie es keinem recht machen: nicht jenen, die Hoffnungen in sie gesetzt haben, nicht jenen, denen sie als Frau, Preußin und Protestantin sowieso schon verdächtig ist. Aus den anderen Generationen der CDU war keine Hilfe zu erwarten. Die Kohl-Generation verabschiedet sich auf wenig eindrückliche Weise. Die Schäuble-Generation fällt aus. Aus ihrer eigenen Generation haben sie den eigenen Vorteil, die Galerie, die eigene Kanzlerkandidatur oder das Jahr 2003 im Blick, nicht den gemeinsamen Erfolg. Wo jeder Team-Geist fehlt, hilft auch kein „Triumvirat“.

II. Die Strategie: In den ersten Jahre einer Opposition ist die Versuchung groß, die Niederlage als Betriebsunfall zu interpretieren; deshalb keine Wahlanalyse und keine Debatte über die strategischen Optionen, die eine Opposition hat: Konfrontation und Polarisierung oder aber das Bemühen, im Parlament pragmatisch von Fall zu Fall über Kooperation oder Konfrontation zu entscheiden und in der Partei beharrlich und mit langem Atem an Profil, Kompetenz und eigenen Themen zu arbeiten. So hat sich mit der Zeit fast bewusstlos die Angst in wichtigen CDU-Köpfen festgesetzt: Wenn die Regierung Schröder erst einmal die beiden großen Reformen, die Steuer- und die Rentenreform, erfolgreich durchgebracht habe, dann brauche man den Wahlkampf 2002 erst gar nicht anzufangen. Aber selbst eine Strategie der Konfrontation ist nicht verwerflich, wenn sie Aussicht auf Erfolg hat. Aber dazu braucht es Mehrheiten, die verhindern können. Hilfreich sind auch eine eigene Position, die man in ein paar Hauptsätzen erklären kann, sowie eine Regierung, die ihre besten Zeiten lange hinter sich hat. Aber eine Konfrontation ohne negative Mehrheit, gegen eine Politik, die von ferne wirkt wie die eigene aus früheren Zeiten, und das alles noch gegen einen Kanzler, dem bestimmte Weichenstellungen etwas wert sind (an Geld und Kompromissen): das war und ist schon eine strategische Meisterleistung. Der Rest ist bekannt (Steuerreform, Rentenreform). Die CDU ist politisch entgleist lange vor dem Fahndungsplakat.

III. Nachhaltiger als Personen und Strategien, die man ändern kann, gefährdet eine falsche politische Ästhetik die Zukunft einer Partei. Das ist ganz wörtlich gemeint: Die Wahrnehmung der Wirklichkeit entscheidet letztlich darüber, ob eine Partei oder eine Bewegung „mitten im Leben“ steht oder sich selbst aus der Epoche herauskatapultiert. Die Erfolgsgeschichte der CDU hatte auch darin ihren Grund, dass sie den Kontakt zu den Lebenswelten der Menschen und zu dem Wurzelwerk der Gesellschaft besser geschafft hat als Old Labour, von anderen Arbeiterkulturen ganz zu schweigen. Den Zeitgeist anzuklagen und zugleich den Geist der Zeiten wahr-zu-nehmen, das hat die Union lange Zeit nicht schlecht gemacht. Es war das genaue Gegenteil eines Kulturkampfes, dessen verwitterte Fahnen sie gleichwohl gerne auf ihren Beibooten hat flattern lassen. Geht der CDU dieses Sensorium langsam verloren? Kehren Kulturkämpfe wieder, mit Munition aus den Steinbrüchen und Abgründen der Vergangenheit? Politische Ästhetik, das ist die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. Man kann in Amerika geteilter Meinung sein, ob sich die Gesellschaft in zwei Kulturen teilt, wie manche meinen: Die eine Hälfte lebe auf den moralischen Grundlagen der 50er-Jahre, gläubig, puritanisch, familienorientiert, die andere aus den (gegenkulturellen) Werten der 60er: säkular, individualistisch, auf Selbstverwirklichung bedacht. The beautiful and the dutiful.

Es liegt auf der Hand: Wenn es in einer Gesellschaft zwei Kulturen gibt, dann macht Kulturkampf politisch einen Sinn. Wenn die Gesellschaft vielfältiger und die Menschen widersprüchlicher werden und sich Mehrheiten nur noch als Summe von Minderheiten denken lassen, dann befördern Kulturkämpfe ins politische Nirgendwo. Sie muten an wie Ritterspiele in alten Rüstungen. Natürlich kann keine Rede davon sein, dass die CDU vom Kulturkampffieber ergriffen ist. Und doch scheint es, dass ihr ein Dilemma der modernen Gesellschaft mehr zu schaffen macht als anderen: Lebensformen und Lebensstile treten auseinander. Man kann in traditionellen Lebensformen unkonventionelle Lebensstile leben und in unkonventionellen Lebensformen ein sehr traditionelles Leben führen. Wenn eine Partei nicht aufpasst, stellt sie sich aus den neuen Möglichkeiten ein Programm für Minderheiten zusammen, und das alles nur, weil sie angeblich bestimmte Werte hochhält. Ein Beispiel nur: Schwule Paare gelten nicht nur für die CDU noch immer als eine eher unkonventionelle Lebensform. Die beiden männlichen Wesen, die da aus dem Standesamt kommen, können aber in eine sehr traditionelle „Ehe“ hineingehen, mit einer klaren Rollenverteilung einen eher bürgerlichen Lebensstil praktizieren – samt aller Sekundärtugenden, die man sich nur wünschen kann.

So kommt es, wie es kommen musste: Am Ende kann Angela Merkel es keinem recht machen

Eine andere Kombination geht stärker hinein in Mitte und Mehrheit der Gesellschaft: In traditionellen Lebensformen (Ehe und Familie) pluralisieren und differenzieren sich immer mehr die Lebensstile. Auch die Töchter und Söhne von Ministerpräsidenten der Union wollen anders leben als ihre Eltern, ohne deshalb Familie und Kinder von vornherein gering zu achten. Die einen, eine (finanzkräftige und einflussreiche!) Minderheit, verschreckt die CDU mit ihrem Naturrecht, die anderen mit ihrer heimlichen, aber für viele unheimlichen Botschaft, die Welt sei halt doch noch in Ordnung und überhaupt alles besser gewesen, als die Frauen noch zu Hause, die Kinder noch gehorsam und die Kirche noch mitten im Dorf waren. Den Kulturwandel als Kulturkampf zu interpretieren würde bedeuten, eine Partei falsch zu programmieren, sie aus der Mitte der Gesellschaft herauszuführen. Das aber hatte man eigentlich von Angela Merkel zuallerletzt erwartet. Doch „Politik heißt anfangen können.“ Es ist mehr als ein Trost, den Hannah Arendt da bereithält.

WARNFRIED DETTLING