enzyklopädie der sitzgelegenheiten: sitting in china

Als der Stern-Fotograf Michael Wolf in einer Straße Pekings einen alten, ramponierten Sessel aufnehmen wollte, der trotz seines erbärmlichen Zustands wie ein prächtiger Thron wirkte, gab es einen Menschenauflauf. Warum er denn ausgerechnet diesen hässlichen Sessel fotografieren wolle? Ob er sich über China lustig machen wolle? Sein Argument, dass der Sessel Charakter habe, ausgebildet in einem langen, harten Leben, wurde nicht gelten gelassen. Er sei ein Fremder, ihm könne man nicht glauben, er solle doch ein Foto von einem neuen Sessel machen. Doch Wolf hatte sich schon entschieden. Zum Glück, denn wenig später war der Stein des Anstoßes, war der merkwürdige Thron von der Polizei konfisziert und vernichtet worden. 100 ganz und gar individuelle Sitzgelegenheiten von ganz und gar unterschiedlichem Charakter und Temperament hat der Fotograf nun zu einem hinreißenden kleinen Fotobuch zusammengefasst, das seinen Titel zu Recht trägt. Denn Michael Wolf, „Sitting in China“ (Steidl Verlag, Göttingen 2003, 27,00 €), zeigt anhand der Stühle und Hocker tatsächlich, wie man in China sitzt. Gerne in Bodennähe und gerne improvisiert. Dann aber wieder bequem in einem dieser riesigen, ausladenden Sessel, die man von den alten Fotos der Parteikader her kennt. WBG