Die „echte Lehre“ ist Mangelware

Die Lehrstellenlücke ist nur noch 20.200 Stellen klein, jubelt die Politik. Aber das ist nur ein sehr kleiner Teil der Wahrheit. Unzählige Jugendliche sind ausgewichen – sie jobben, bilden sich weiter oder stecken in Maßnahmen des Arbeitsamtes

aus Berlin ULRIKE HERRMANN

Das Ausbildungsjahr hat begonnen – und immer noch suchten Ende September 35.000 Bewerber eine Lehrstelle. Gleichzeitig waren 14.800 Ausbildungsplätze unbesetzt; also meldete die neueste Arbeitsmarktstatistik gestern eine offizielle „Lücke“ von 20.200 Stellen. Die ganz große Katastrophe ist also ausgeblieben: Noch im Juni hatte die Bundesanstalt für Arbeit prognostiziert, dass mindestens 60.000 Bewerber ohne Ausbildungsplatz bleiben würden.

Die „Lücke“ allerdings gibt die wahre Arbeitsmarktsituation für Jugendliche nur unzureichend wieder. Das zeigen die differenzierten Statistiken. So wurden von Oktober 2002 bis September 2003 bundesweit 546.700 Ausbildungsstellen gemeldet; das waren 39.500 weniger als im Jahr zuvor. Diese Lehrstellen gingen bei den Firmen verloren; sie bieten jetzt nur noch 485.207 Ausbildungsplätze an. Die Ersatzmaßnahmen des Staates blieben bestehen. Nun suchen jedoch die meisten Jugendlichen eine Lehrstelle bei einer Firma und nicht bei einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte. Schließlich hat sich herumgesprochen, dass jene Berufsanfänger größere Chancen haben, die eine reguläre Lehre absolviert haben.

Auf die insgesamt 546.700 Ausbildungsplätze kamen 719.600 Bewerber. Dass die „Lücke“ trotzdem inzwischen auf 20.200 Lehrstellen geschrumpft ist, hat einen schlichten Grund: Viele Jugendliche hoffen nicht mehr auf einen Ausbildungsplatz und haben sich nach Alternativen umgesehen. Knapp 140.000 besuchen weiterführende Schulen, knapp 32.000 sind in berufsvorbereitenden Maßnahmen untergekommen, 73.000 haben eine Arbeit aufgenommen – oder suchen eine.

Nun führt jedoch auch eine Ausbildung nicht unbedingt zu einem Arbeitsplatz. Offiziell waren im September 515.686 „Jüngere unter 25 Jahren“ arbeitslos. Umgerechnet bedeutet dies eine Quote von 9,9 Prozent – junge Menschen scheinen leicht besser dazustehen als die Erwerbslosen insgesamt. Bei ihnen lag die Quote bei 10,1 Prozent.

In Wahrheit ist die Lage noch dramatischer: Zusätzlich zu den arbeitslosen Jugendlichen befinden sich noch weitere rund 482.000 junge Erwerbslose in „Maßnahmen“. Dazu gehören Überbrückungsgelder oder Eingliederungshilfen. Faktisch sind also etwa eine Million Jugendliche ohne Job. Dagegen wirkt die offizielle Ausbildungslücke von nur 20.200 Stellen fast harmlos.

Die Regierung reagiert entsprechend besorgt. Gestern Abend luden Bildungsministerin Bulmahn und Wirtschaftsminister Clement (beide SPD) zu einem Gipfel mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, um die Situation zu verbessern. Allerdings boykottierten die Arbeitgeber das Treffen zumindest symbolisch – sie schickten nicht ihre Präsidenten, sondern nur die Hauptgeschäftsführer oder Mitarbeiter aus der zweiten Reihe. Es gefällt ihnen nicht, dass der DGB so massiv eine Ausbildungsumlage fordert – und dass Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 im März dieses Anliegen bereits unterstützt hat.

Allerdings rechnete gestern niemand damit, dass der Gipfel konkrete Ergebnisse produzieren könnte. Schon bei einem Treffen mit den Gewerkschaften Anfang September hatte sich Schröder geweigert, „Ultimaten“ an die Wirtschaft zu richten. Er setzt weiterhin auf die Selbstverpflichtung der Unternehmen, für jeden Bewerber eine Lehrstelle zu schaffen. Zudem zeigt die Erfahrung, dass es bis zum Jahresende noch zu zahlreichen Nachbesetzungen kommt.

Allerdings könnte es sein, dass sowieso nicht die Regierung entscheidet, wie es mit der Ausbildungsplatzumlage weitergeht. So dürfte sich der Druck aus der SPD massiv erhöhen – und auf dem Parteitag Mitte November entladen. Schließlich muss der Basis eine Kompensation angeboten werden für die ungeliebten Kürzungsbeschlüsse der Agenda 2010. Eine Ausbildungsabgabe könnte die Gemüter besänftigen. Das weiß der Kanzler so gut, dass er diesen Trick schon vor einem halben Jahr in seiner Regierungserklärung vorweggenommen hat.