Kein Bild für die Geschichtsbücher

Die D-Day-Feiern zeigen wie ein Thermometer den Stand der Historisierung des Zweiten Weltkrieges an

VON STEFAN REINECKE

Morgen vor 60 Jahren landeten die Alliierten in der Normandie. Der D-Day war, nach Stalingrad, das kriegsentscheidende Ereignis, dass die Befreiung Europas von den Nazis beschleunigte.

In der kollektiven Fantasie der Bundesdeutschen spielte der D-Day in den letzten 50 Jahren keine wesentliche Rolle: Die militärische Katastrophe repräsentierte der Kessel von Stalingrad, die endgültige Niederlage der 8. Mai 1945. Der D-Day war in eher undeutlicher Erinnerung – vage assoziiert mit dem Glück Westdeutschlands, in den Genuss der US-Besatzung gekommen zu sein.

Gleichwohl haben die D-Day-Feiern in den letzten 20 Jahren die bundesdeutsche und die französische Politik regelmäßig irritiert. Die Frage lautete: Sollten die Westalliierten den D-Day auch als Tag der Befreiung der Westdeutschen inszenieren – oder war dies ihre Party, für die es keine gemeinsame Erzählung geben konnte? So wurde Kohl 1984 nicht eingeladen – und war ordnungsgemäß beleidigt. Eine absonderliche Lage: Mitterrand wollte Kohl nicht – und Kohl wollte offenbar an der Feier einer deutschen Niederlage gar nicht teilnehmen. Darin war er, trotz wetterfester Europabegeisterung, ein Nationalkonservativer. Gerade weil man sich über das Trennende des D-Day einig war, entzündete sich eine kleine diplomatische Krise. Man war verbündet, nun schwankte der historische Boden.

Zwecks Stabilisierung lud Mitterrand Kohl nach Verdun ein. Dort entstand ein Foto, das an visueller Prägnanz Brandts Kniefall in Warschau gleichkam und zum symbolischen Inventar der deutsch-französischen Beziehungen zählt: Kohl und Mitterrand Hand in Hand. Es war ein Bild, das eine ganze Politik zusammenzufassen schien. Dabei war diese Szene eigentlich eine Verlegenheitslösung. Die Pathosgeste fand über den Gräbern des ausreichend fernen Ersten Weltkrieges statt – weil man den D-Day nicht gemeinsam feiern konnte.

1994 führten Kohl und Mitterrand das erprobte Stück noch einmal auf. Die Deutschen waren nicht standesgemäß eingeladen, Kohl war demonstrativ beleidigt. Als Entschädigung durfte am französischen Nationalfeiertag das Eurokorps, inklusive Bundeswehrsoldaten, in Panzern über die Champs-Élysées rollen. Ein Bild, das den Sieg der Gegenwart über die Vergangenheit bezeugen sollte.

Die D-Day-Feiern zeigen wie ein Thermometer den Stand der Historisierung des Zweiten Weltkrieges an. Das Datum erschien wie ein Fels, der sperrig auf dem Weg zu einer kollektiven europäischen Erinnerung lag. Nun scheint dieser Stein rund geschliffen zu sein. Morgen wird Gerhard Schröder, geboren ein paar Monate vor dem D-Day, neben den Staatschefs der Alliierten an der D-Day-Gedenkveranstaltung teilnehmen. Geladen sind 16 weitere Staats- und Regierungschefs. Das Ganze dürfte wie eines der üblichen Gipfeltreffen anmuten, diesmal mit historischem Beiprogramm. Ein Bild für die Geschichtsbücher wird dabei kaum herausspringen.

Politisch wird dieser D-Day die Differenzen des Westens dokumentieren – nicht, wie früher, den deutsch-französischen Streit. Die zentrale Figur in der Normandie wird kaum der US-Präsident sein, obwohl ihm dies historisch zusteht. Denn George W. Bush verkörpert den kolossalen Irrtum, dass sich die glorreiche Befreiung von Paris 1944 in Bagdad wiederaufführen lassen könnte. Der Satz, dass Siege dumm machen können, war selten so wahr. Prägen wird diesen D-Day eher das Duo Chirac und Schröder, das sich als zivile, lernfähige Gegenmacht zu Bush präsentieren kann.

Bleibt die Frage: Warum jetzt? Schröder, der zu historischen Fragen einen hemdsärmeligen Zugang pflegt, hat dazu kommentiert: „Die Landung in der Normandie war der Beginn der Befreiung Europas.“ Und: „Der Inhalt dieser Einladung heißt doch: Der Zweite Weltkrieg ist endgültig vorüber.“ Dieser Schröder’sche Doppelschritt fasst in schlichter Prägnanz die rot-grüne Geschichtspolitik zusammen: Nichts mehr von Kohls hartleibiger Weigerung, die deutsche Niederlage klipp und klar als Befreiung zu verstehen. Anstelle dessen: Lektion gelernt, Geschichte bewältigt, Zeichen gesetzt. Und jetzt den Blick nach vorne richten.

Gleichzeitig umgibt Schröders Auftritt etwas Indifferentes. Die Veteranenverbände in Frankreich und England haben nicht protestiert. Noch nicht mal den üblichen britischen Krawallblättern ist etwas Zündendes eingefallen. Nur Bild und ein paar Unionspolitiker versuchen, Schröder als vaterlandslosen Gesellen zu brandmarken – weil er nicht eigens den deutschen Soldatenfriedhof in La Cambe besucht (wo auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind). Diese Kritik wirkt nicht nur vorgestrig, sondern auch etwas pflichtschuldig. Man mag fast erleichtert sein, dass wenigstens die deutschen Rechtskonservativen den großen Erinnerungskonsens stören.

So ist Schröders Auftritt in der Normandie ein markantes Zeichen für die rasante Historisierung unter Rot-Grün. Seit in Deutschland Politiker regieren, die nach 1945 geboren und mit dem 68er-Antifaschismus vertraut sind, hat sich die NS-Vergangenheit rapide entdramatisiert – keineswegs durch Leugnung, sondern indem sie in das eigene Selbstbild integriert wurde. Die Vergangenheit ist seit 1998 entideologisiert worden. Joschka Fischers törichter Versuch, den Kosovokrieg mit Auschwitzvergleichen zu rechtfertigen, blieb eine Ausnahme. Der Antifaschismus, einst geistig-moralischer Besitzstand der Linken, wirkt ziemlich ausgewaschen, in der Union ist der deutschnationale Flügel auf dem absteigenden Ast. Die Vergangenheit, in den letzten 30 Jahren Projektionsfläche für Identitätskämpfe, bleicht aus. Also alles normal? So sieht es aus – aber das Ende der Geschichte mit der Geschichte ist dies nicht.

Bislang hat sich die bundesrepublikanische Geschichtspolitik eher in paradoxen Sprüngen bewegt als in geraden Linien. Die antifaschistische Generationsrevolte der 68er führte teilweise in eine unbewusste Wiederholung der Muster der bekämpften Eltern – symbolisch zusammengefasst in dem Genickschuss, der Tötungsmethode der SS, mit dem die RAF Hanns Martin Schleyer ermordete. In den 80er- und 90er-Jahren schienen Nazizeit und Zweiter Weltkrieg in einer seltsamen Zeitschleife näher statt ferner zu rücken. Verlass war geschichtspolitisch in der Republik bislang nur auf das Unerwartete.

Deshalb sollte man mit selbstgewissen Normalisierungsthesen, die es schon öfter gab, vorsichtig sein. Die Distanz zwischen heute und gestern wächst. Aber führt dies zu einem Zustand, in dem die NS-Zeit zur abgelagerten Geschichte wird, untauglich für die Aufladung mit gegenwärtigen Konflikten? Das ist unwahrscheinlich.

Nicht nur eine Figur wie Erika Steinbach zeigt, dass der Revanchismus der Vertriebenen keineswegs mit der Generation der Akteure abtritt. Ein ähnliches Phänomen scheint, ganz anders, auch für die zweite und dritte Generation jüdischer Deutscher zu gelten. Der Streit über die Flick-Austellung, über Walser und Möllemann wurde mit einer rhetorischen Verve geführt, die ins Bild der freundlichen Historisierung nicht passen will. Richard Chaim Schneider hat im Tagesspiegel angemerkt, dass bei den Deutschen „eine Entemotionalisierung des Holocaust einsetzt, während auf jüdischer Seite bei der zweiten und dritten Generation gerade die von der Opfer-Generation verdrängten Gefühle deutlicher hervortreten“. Die Deutschen betrachten die Kinder der Holocaust-Opfer mit weniger Empathie als deren Eltern – während manche Kinder der jüdischen Überlebenden, so Schneider, glauben „erst sie könnten jene Gefühle ausdrücken, die ihre Eltern verdrängen mussten, um weiter leben zu können“. So scheint die Historisierung der NS-Zeit neue Widersprüche zu erzeugen: Gerade weil für viele Deutsche das Gestern ferner rückt, werden die deutsch-jüdischen Konflikte härter.

Morgen wird Gerhard Schröder den Soldatenfriedhof in Ranville besuchen, wo alliierte und deutsche Soldaten begraben sind. Später wird er, neben Chirac, eine Rede halten, die hoffentlich jeden Anflug des Verdachts, dass die Deutschen sich neuerdings als Sieger fühlen, zerstreuen wird. Dann wird ein Bild entstehen, das die Historisierung der NS-Zeit auf den Punkt bringt. Ein Schlussbild ist es nicht.