Humanitärer Imperialismus

Fluthilfe für Asien, Aufbau in Afrika – mit Katastrophen- und Entwicklungshilfe wird Politik gemacht. Sie zwingt Geber zur Machtausübung und entmachtet Empfänger

In zerfallenen Staaten, etwa im Kongo,ist die Entmachtung dauerhaftinstitutionalisiert

Wer sein Überleben von der Mildtätigkeit Fremder abhängig machen muss, verliert zwangsläufig an Mündigkeit. Das gilt für Pflegebedürftige in Deutschland, für Hungernde in Sudan und voraussichtlich auch für Flutopfer in Indonesien. Nicht die Bedürftigen, sondern die Helfer entscheiden, was und wie viel es zu essen gibt und wo und wann man es bekommt. Humanitäre Hilfe strukturiert das Leben ihrer Empfänger bis in den kleinsten Winkel des Alltags und ist deshalb immer auch eine Machtfrage.

Das gilt nicht nur auf der Ebene von Einzelpersonen, sondern auch auf der von Organisationen und Staaten. Eine Wohltätigkeitsorganisation in Sri Lanka, die ihr Geld von Partnerorganisationen in Deutschland bekommt, passt sich immer den Wünschen des Partners an. Mehr noch, es liegt in der Macht des reichen Partners, die Grenzen der eigenen Macht festzulegen. Manche Organisationen lassen ihrem Pendant im Entwicklungsland freie Hand, andere knüpfen an ihre Gelder strenge und sogar ideologische Bedingungen. So finanziert die derzeitige US-Regierung bei der Aidsbekämpfung in Afrika nur Organisationen, die keine Familienplanung betreiben. In manchen Ländern sehen es ausländische Hilfswerke ungern, wenn ihre einheimischen Angestellten untereinander Erfahrungen austauschen – sie sehen damit ihre Entscheidungshoheit in Frage gestellt.

Auf Regierungsebene ist Entwicklungshilfe inzwischen stets zweckgebunden, selbst wenn sie nicht nur einzelne Projekte finanziert, sondern in das Budget des Staates einfließt und Bestandteil des Haushaltes wird. Für immer mehr der ärmsten Länder gilt der Grundsatz, dass eingesparte Gelder aus Schuldenerlassprogrammen in die Armutsbekämpfung gesteckt werden müssen. Was das heißt, wird vorab von Gebern, Empfängern und möglichst der betroffenen Bevölkerung gemeinsam in einem „partizipativen Prozess“ festgelegt, an dessen Ende ein verbindliches Armutsbekämpfungsstrategiepapier steht – nach der englischen Abkürzung als PRSP (Poverty Reduction Strategy Paper) bekannt.

In Ländern, deren Regierungen sich sonst überhaupt nicht um die Armen scheren, ist das ein zwingender und willkommener Fortschritt. Aber wenn PRSP-Programme eine längere Laufzeit als die Amtszeit der Empfängerregierung haben, binden sie auch mögliche Nachfolger und schränken die demokratische Wahlmöglichkeit ein. Anders als beim EU-Stabilitätspakt, der die Höhe, nicht aber die Verwendung der öffentlichen Kreditaufnahme eingrenzt, geht es bei PRSP um detaillierte Vorgaben in allen Kernbereichen der Politik.

Bei staatlich finanzierter Katastrophenhilfe oder humanitärer Hilfe in zerfallenen Staaten sind die Rahmenbedingungen noch strikter. Wenn die Bundesregierung sagt, an ihre 500 Millionen Euro Wiederaufbauhilfe für die Flutgebiete des Indischen Ozeans seien keine politischen Bedingungen geknüpft, führt sie die Öffentlichkeit in die Irre. Würde es Berlin hinnehmen, wenn die Regierungen Indonesiens, Sri Lankas, Thailands oder Indiens mit Hilfsgeldern ihr Militär aufrüsten, um die Rebellen in Aceh, den Tamilengebieten, Südthailand oder Kaschmir zu bekämpfen? Wohl kaum. Außenminister Fischer hat bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen, mit den Hilfsgeldern auch Versöhnungsprozesse zu fördern. Mit Hilfe wird Politik gemacht.

Gerade in dringenden Notfällen vergessen Geber oft, den Empfängern ihrer Hilfe zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Als Anfang 2002 die kongolesische Stadt Goma durch einen Vulkanausbruch zu großen Teilen zerstört wurde, bestand der Reflex der meisten Helfer darin, die geflohene Bevölkerung von einer Rückkehr abzuhalten und sie in entfernte Notaufnahmelager zu zwingen. So nahe an einem Vulkan dürfe es gar keine Städte geben, sagten viele Experten; Wiederaufbauhilfe lohne sich nicht. Doch die Bewohner Gomas waren anderer Meinung: Nach drei Tagen Flucht zogen sie in ihre Ruinenstadt zurück und bauen sie nun ganz langsam ohne fremde Hilfe wieder auf.

Nach dem Erdbeben, das Ende 2003 die iranische Stadt Bam verwüstete, widersetzten sich auch dort die Bewohner ausländischen Besserwissern, die den Wiederaufbau der Stadt dafür nutzen wollten, ganz andere Vorstellungen von Städtebau durchzusetzen. Irans Regierung unterstützte ihre Bevölkerung. Das Ergebnis: nur wenig ausländische Hilfe fließt nach Bam.

Auch in Asiens Flutgebieten kursieren bereits erste Überlegungen zur Massenumsiedlung der Bewohner von Aceh, was mit der Gefahr neuer Erdstöße und Tsunamis begründet wird, aber zugleich die aus Regierungssicht widerspenstigste Region Indonesiens gesellschaftlich zerschlagen würde. Ausländische Regierungen, die Acehs Wiederaufbau finanzieren wollen, sollten sich solchen Plänen nicht anschließen, wenn sie dem Willen der Bevölkerung nicht entsprechen. Aber falls Indonesiens Regierung das irgendwann trotzdem will, müssen sich die Geber dann über den Willen ihrer Partnerregierung hinwegsetzen. So zwingt humanitäre Hilfe die Geber zu politischen Entscheidungen.

Für die politische Dimension der humanitären Hilfe gab es schon genug Herausforderungen, bevor im Laufe des Jahres 2004 der Krieg im sudanesischen Darfur und jetzt die Flutkatastrophe im Indischen Ozean dazukamen. In zerfallenen Staaten mit im Aufbau befindlichen Regierungen wie Kongo, Liberia oder Afghanistan haben Geberregierungen bereits faktisch unbeschränkte Wahlfreiheit über die Verwendung und Höhe ihrer Hilfe, und die lokale Regierung kann froh sein, wenn sie überhaupt informiert wird.

Hier ist die Entmachtung institutionalisiert, und zwar auf unabsehbare Zeit. Und mit jedem Friedensprozess, jedem Flüchtlingsdrama und jeder Naturkatastrophe auf der Welt entsteht ein neuer Schauplatz, auf dem gleichberechtigte Beziehungen zwischen souveränen Regierungen durch ungleiche Beziehungen zwischen Geber und Nehmer ersetzt werden.

Auf Regierungsebene ist die Entwicklungshilfe inzwischen stets zweckgebunden

Diese Herausforderung lässt sich auf unterschiedliche Weise bewältigen. Eine wäre, Hierarchiebildung zwischen Ländern nicht als Regelfall zu begreifen, da die zu bewältigenden Krisen Ausnahmesituationen darstellen, die überwunden und nicht perpetuiert werden sollen. Damit würde auch dem Trend entgegengewirkt, die Welt unter karitativen Gesichtspunkten zu ordnen und ganze Weltregionen – beispielsweise Afrika südlich der Sahara – als souveräne Akteure abzuschreiben und zu „Intensivstationen“ mit minderen Rechten herabzustufen.

Die Realität ist aber eine andere: Größere Anstrengungen seitens der reichen Länder zur Bekämpfung von Notlagen bedeuten für arme Länder einen strukturellen Souveränitätsverlust. Vielleicht ist es angesichts der Flutkatastrophe geboten, diesen Trend eines schleichenden humanitären Imperialismus beim Namen zu nennen – nicht, um ihn zu verteufeln oder zu verteidigen, sondern um damit einen immer wichtigeren Teil der Realität heutiger Nord-Süd-Beziehungen überhaupt zu begreifen.

DOMINIC JOHNSON