Eine Generation verliert ihren Halt

In Aceh warten tausende Kinder auf ihre Eltern. Kinderhandel per SMS war jedoch ein schlechter Scherz

BANDA ACEH taz ■ Amirullah schmettert den Ball übers Netz. Mit seinen Freunden aus der Internatsschule im kleinen Ort Samahani vertreibt sich der 15-Jährige die Zeit. Seitdem Erdbeben und Flutwellen große Teile der Küste im Norden der Insel Sumatra verwüstet haben, ist auch hier der Unterricht ausgefallen, obwohl dieser Bezirk weitgehend verschont geblieben ist. Amirullah sagt: „Volleyball bringt Spaß.“ Doch seine Augen lachen nicht. Immer wieder schaut er zur Straße. Am Morgen sind zwei Mitschüler von Angehörigen abgeholt worden. Aber nach ihm hat keiner gefragt. Weder seine Eltern, deren Häuschen im Küstendorf Labuh stand, noch irgendjemand von den Verwandten. Mit jeder Stunde sinkt die Hoffnung, dass wenigstens einer dem Unglück entronnen ist.

Amirullah ist eines Von vermutlich rund 35.000 Kindern, die allein in Indonesien ihre Eltern vermissen, oder – schlimmer noch – alle Verwandten verloren haben. Jetzt wird den indonesischen Behörden und den Hilfsorganisationen klar, welche Folgen das Unglück für die Schwächsten hat: Die junge Generation hat ihren Halt verloren.

Am Unglücksmorgen verschwanden dutzende von Schulen. Niemand weiß genau, wie viele Kinder noch leben. Die Situation in Banda Aceh ist desolat: Täglich werden tausende Leichen geborgen, bis zur Unkenntlichkeit verwest.

Auch unter den eingestürzten Häusern, die das Erdbeben nicht überstanden, vom Wasser aber verschont blieben, liegen noch Tote. Einen Überblick zu bekommen, ist auch deshalb schwierig, weil tausende mit ihren Kindern aus der Stadt geflüchtet sind, und die es wegen der Nachbeben nicht wagen, zurückzukehren.

Vor öffentlichen Gebäuden sowie an den Eingängen der Flüchtlingslager hängen Zettel mit Namen von Kindern, manche mit Fotos. Studenten stellen Listen zusammen, Eltern ziehen durch die Stadt auf der Suche nach Töchtern und Söhnen.

Um zu verhindern, dass Menschenhändler die Situation ausnutzen, hat die indonesische Regierung verboten, Kinder aus dem Katastrophengebiet zu adoptieren und in andere Regionen oder gar ins Ausland zu bringen. Die Warnung des UN-Kinderhilfswerkes Unicef jedoch, dass Kinderhändler bereits Kinder über SMS zum Verkauf anbieten würden, wurde gestern vom Vizepolizeichef Malaysias in Kuala Lumpur dementiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich bei den SMS um einen „schlechten Scherz“.

Im Lagezentrum des Gouverneurs von Aceh wurde unterdessen ein „Kindersuchdienst“ eingerichtet. Die Suche verlief allerdings bislang unkoordiniert. Unicef und das Internationale Rote Kreuz wollen den Behörden nun bei der Fahndung helfen. „Kinder, von denen wenigstens entfernte Verwandte überlebt haben, werden wohl dort unterschlüpfen können. In Aceh sind die Familienbande stark“, sagt Unicef-Mitarbeiter Gordon Weiss. Wenn niemand mehr kommt, um den Internatsschüler Amirullah und die anderen abzuholen, sagt ein Lehrer, „dann werden sie eben bei uns bleiben. Dann sind wir ihre Familie.“ JUTTA LIETSCH