: Die Kosten des Paradieses
Vom Missbrauch des Menschen: Thomas Ostermeier gelingt mit „Vor Sonnenaufgang“ ein perfekter Sprung vom sozial engagierten Naturalismus Gerhart Hauptmanns in die Zeiten der Globalisierung
von SABINE LEUCHT
Zwischen den Szenen pfeift der Wind durch die Palmen, die sich auf dem Vorhang biegen, was das Zeug hält. Dunkle Wolken brauen sich zusammen, und schwarze Vögel werden zu Geschossen. Dann, bevor im Kindbett oben das Jammern abrupt verklingen und ein anderes Jammern beginnen wird, erleichtert sich die Atmosphäre: Regen schießt aus der Dachrinne über der großen Veranda, die sich zum Palmengarten hin öffnet.
Die Hitze spielt eine Hauptrolle in der Inszenierung von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ an den Münchner Kammerspielen. Sie wird auf Rufus Didwiszus’ exquisiter Bühne so was von behauptet: Grillenzirpen und Wärmenebel im Hintergrund – und zum hörbaren Hitzeflimmern fast fühlbarer Schweiß: Wer so leichte Fetzen trägt wie Julia Jentschs Helene, der muss einfach trotzdem schwitzen. Doch nicht nur Hitze lastet auf dem Haus, noch etwas dräut ganz gewaltig. Das weiß man immer schon, das spürt man immer mehr. Und wenn einen überhaupt etwas ärgert an diesem fast zu perfekten Abend, dann ist es dieses Übercodierte, die immer schon in die Gegenwart ragende Zukunft.
Das Haus der Familie Krause ist ein Traum von einem Urlaubsparadies. Wie eine jener Ferien-Lodges, bei deren Anblick einen die Leere im eigenen Geldbeutel juckt – und gleich darauf das Gewissen sticht. Denn die ganze teakgetäfelte postkoloniale Pracht ist nicht nur in den Kammerspielen dem Elend anderer abgerungen. Darum leuchtet auch ein, warum der Regisseur Thomas Ostermeier Gerhard Hauptmanns Erstling – das „Urstück“ des sozial engagierten Naturalismus – in ein namenloses asiatisches Land verlegt hat. Denn was 1889 die schlesischen Kohlebergbauern waren, sind heute die Näherinnen in Thailand, China, Indonesien und den Philippinen. Die Kleidung und der Profit der Ersten Welt entsteht auf ihrem Rücken. Sie arbeiten sich krumm.
So dachte der Regisseur und ist nach einem Sprung von der Länge eines guten Jahrhunderts und mehrerer tausend Kilometer so punktgenau gelandet, dass man ihn beglückwünschen muss. Jede Szene stimmt, und jedes heutige Wort fällt, auch dank der Dramaturgie von Marion Tiedtke, ins Gefüge des Hauptmann-Textes, als sei hier sein angestammter Platz.
Doch die Krönung der Verschiebung sind die Schauspieler: Hildegard Schmahls Clanchefin ist der verbreitete Typ Frau, der Lebensstandard mit Niveau verwechselt und den zunächst geschassten Jugendfreund des Schwiegersohns später als „Herr Doktor“ umschmeichelt. Dieser Doktor Alfred Loth selbst aber ist gekommen, um die Verhältnisse in den Fabriken zu studieren: Stephan Bissmeier, der sowieso immer wie das Leiden Christi aussieht, schickt sich bruch- und widerstandslos in diese fleischlose, bleiche Seele. Er legt an die Welt und die Menschen seine linken Ideale als Maßstab an. Für seinen zu Geld gekommenen Ex-Genossen Hoffmann (Michael Neuenschwander) zählen nur Funktion und Nutzen. Die Menschen an sich missbrauchen sie beide.
Die Inszenierung des Berliner Schaubühnen-Chefs enthält sich hier klug der Wertung. Sie ist kapitalismuskritisch und zugleich ideologisch ausbalanciert. Sie beginnt als Salonstück und findet auch wieder dahin zurück. Das Herrenvolk redet nur und winkt die Musik an und aus, die Pidgin sprechende Dienerschaft (Joel Olano, Narudee Sriprasertkul) ist ja immer in Rufweite. Dazwischen gibt es kurz aufflackernde Szenen wie Schnappschüsse eines Albtraums: der alte Krause im Vollsuff, wie er sich über Helene hermacht; ein fluchender Arbeiter, über ein Stromaggregat gebeugt; das Hausmädchen auf der Flucht.
All dies findet statt in einem hermetischen Draußen, auf einem Platz mit Buddhabrunnen, von schwarz-weißen Palmtapetenwänden umstellt. Einen Sonnenaufgang wird es hier niemals geben. Bei Hauptmann bringt Helene sich um, weil ihr geliebter Loth die jahrelang Missbrauchte angeekelt verlässt. Hier scheint ihr Ende schlimmer. Julia Jentsch wandelt als schlaffes Puppenkind zurück in die Arme ihres Vaters: das Opfer eines großen Menschenfreunds, der es halt nur abstrakt gemeint hat. Und endlich darf man als Zuschauer nicht nur bewundern, sondern auch fühlen.
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