Die Startbahn ins tiefe Mittelalter

Am Ortsrand von Diepensee befand sich eine Gärtnerei. Darunter lag ein Friedhof. Und eine Kirche. Das Brandenburger Dorf wurde abgerissen, weil der Flughafen Schönefeld eine neue Startbahn bekommen soll. Doch zunächst kommen mittelalterliche Skelette zum Vorschein, zur Freude der Archäologen

Brandspuren zeugen davon, dass Diepensee im 14. Jahrhundert abgebrannt und verlassen worden ist Der Archäologie wäre es durchaus dienlich, öfter mal einen Großflughafen über ein Dorf hinweg zu bauen

von Johannes Gernert

Als Diepensee noch ein brandenburgisches Dorf nahe dem Flughafen Schönefeld war, wusste niemand von dem Friedhof und auch nicht von der Kirche. Es gibt jetzt ein neues Diepensee und vielleicht gibt es bald einen Großflughafen Berlin-Brandenburg. Da, wo Diepensee war, wird dann eine Startbahn und eine Landebahn sein. Zurzeit ist da, wo Diepensee war, eine archäologische Ausgrabungsstätte. Es ist erstaunlich, wie wenig von so einem Dorf übrig bleiben kann, wenn man nur möchte. Eine Wiese. Einige Fundamente. Ein Nachttopf. Eine leere Bierflasche.

Nicht alle Bewohner waren von der Umsiedelung begeistert, auch wenn man ihnen für rund 82 Millionen Euro ein neues Dorf gebaut hat. Es gibt immer noch genügend Großflughafengegner, und erst nächstes Jahr wird ein Leipziger Gericht entscheiden, ob der Airport überhaupt gebaut werden darf. Aber wenigstens für die Archäologie, insbesondere für die Brandenburger Archäologie, hat sich die Sache schon mal gelohnt. Darauf weist die Unternehmenskommunikation des Flughafens Schönefeld gerne hin. Zum ersten Mal könne in Brandenburg ein komplettes Dorf ausgegraben werden. Sonst komme es nur im Braunkohlebereich vor, sagt Joachim Wacker vom Landesamt für Denkmalpflege, dass ganze Dörfer geräumt werden. Nun also auch im Flughafenrandbereich.

Das Landesamt und die Berliner Flughäfen haben zum Ortstermin an die Ausgrabungsstätte geladen, um die ersten Funde zu präsentieren. Auf einem Rundgang werden die Besiedlungsspuren von Diepensee (uralt) mit Diepensee (alt) verglichen. Es geht am Diepenseer Friedhof vorbei, dessen Leichname größtenteils in die Nähe von Diepensee (neu) gebracht worden sind. Nur einer liegt noch da, wird aber bald abtransportiert werden.

Hinter dem Friedhof senkt sich ein erster Keller in den weichen Erdboden. Die runden Natursteine stammen aus dem 13. Jahrhundert. Schwarze Brandspuren zeugen davon, dass Diepensee (uralt) im 14. Jahrhundert abgebrannt und verlassen worden ist. Man kann im Augenblick nicht genau sagen, in welcher Reihenfolge. Vielleicht hat eine Pestepidemie die Bewohner gezwungen fortzuziehen, und vorher haben sie noch ihre Häuser angezündet. Vielleicht hat ein unerwünschtes Feuer den Ort zerstört und sie haben sich deswegen anderswo niedergelassen.

Unter der geräumten Gärtnerei kniet eine junge Frau in einem Grab und pinselt Erde von einem Skelett. Über die Fundstelle ist ein weißes Zelt gespannt, wie sie auch auf Gartenpartys verwendet werden. Auf die Knochen sind sie hier erst vor einer Woche gestoßen. Es war eine Überraschung. Eigentlich hätten den Friedhof schon die Arbeiter in den 60er-Jahren entdecken müssen. Die Skelettstücke, die sie da freischoben, während sie den Boden für die Gärtnerei planierten, waren kaum zu ignorieren.

„Sie müssen das gemerkt haben“, sagt Alexander Marx. Er leitet die Friedhofsausgrabung und informiert kurz über den Bestand: „Alle Größen sind vorhanden, vom Kleinkind bis zum ausgewachsenen Mann.“ Es fehlen: Grabbeigaben. Man solle das bitte unbedingt schreiben, sagt er, wegen der Grabräuber.

„Etwa hundert Gräber sind lokalisierbar“, erklärt Marx und zeigt auf die dunkel gefärbten Umrisse in der Friedhofsgrube. „Wow“, sagt der Flughafen-Pressesprecher, der im Übrigen vor allem durch seine überdurchschnittlich interessiert wirkenden Nachfragen auffällt. Man soll ruhig merken, dass das Großflughafenprojekt hier ganz nebenbei etwas Bedeutendes und Großes zu Tage gefördert hat. Dem archäologischen Erkenntnisinteresse wäre es – so der offensichtlich erwünschte Eindruck – durchaus dienlich, öfter mal einen Großflughafen über ein Dorf hinweg zu bauen.

In den nächsten Wochen werden die Skelette mit kleinen grünen Hacken freigelegt, abgepinselt, fotografiert, nummeriert, Knochen für Knochen eingetütet und ins brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege in Wünsdorf gebracht. Dort machen sich Anthropologen an die Untersuchung. Das Schöne an diesem Friedhof, sagt Joachim Wacker, ist, dass man eine Population in ihrer Gesamtheit untersuchen kann. Verwandtschaftsbeziehungen, Ernährung, Krankheiten. Eine komplette mittelalterliche Dorfgemeinschaft.

Der Friedhof lag neben der Kirche. Die Archäologen haben ihren Grundriss mit weißen Linien nachgezeichnet. Marx nennt sie eine „Geisterkirche“, weil außer den Erdspuren nichts übrig ist. Sie ist auf einer Ost-West-Achse ausgerichtet, genauso wie die Toten, deren Köpfe alle nach Westen zeigen. Der Hund hingegen ist etwas weniger akkurat positioniert. Aber er wurde auch erst nach dem Wiederaufbau von Diepensee (alt) begraben, im 18. Jahrhundert, nachdem das abgebrannte Dorf 200 oder 300 Jahre unbewohnt gewesen war. Er lag in einem Holzsarg, im Gutshausgarten, neben dem Gründungshaus des kürzlich entsorgten Diepensee. „Ist ja verrückt“, sagt eine Journalistin.

Auf einem Tisch in einem Container am Rande der Ausgrabungsstätte sind einige Funde angeordnet. Keramik aus der Steinzeit, 5.000 Jahre alt, Steinpfeilspitzen, etwa im gleichen Alter, ein verrosteter Schlüssel mit Schloss, deutlich weniger alt. „Das ist ja verrückt“, sagt die Journalistin wieder. Töpfe und Topfreste. „Wahnsinn.“ Eine zerbrochene Bierflasche der Brauerei „Gustav Rausch Adlershof“, keine hundert Jahre alt. Ein Nachttopf, noch jünger. Daneben ein kleines Keramikgefäß mit zunächst ungeklärter Funktion. Darunter ein Zettel: „Gegenstand: Dose.“