: Zeichen auf Schritt und Tritt
Wenn Adidas den Konkurrenten Reebok schluckt, bleibt das ökonomische Beben nicht nur auf die Branche beschränkt – ein komplexes kulturelles Koordinatensystem muss neu geschrieben werden
von CLEMENS NIEDENTHAL
Man könnte die Geschichte des Turnschuhs als Wirtschaftsgeschichte erzählen. Könnte an Charles Goodyear erinnern, der in den 1830er-Jahren ein Patent zur Galvanisierung erhalten hat. Grundvoraussetzung, um fortan auf gummierten Sohlen durch die Welt zu sprinten. Müsste über Chuck Taylor reden, zu dessen Ehren die junge Firma Converse 1923 einen knöchelhohen Leinensportschuh auf den Markt gebracht hat. Würde zwangsläufig im fränkischen Herzogenaurach landen, wo sich die Brüder Adolf und Horst Dassler im Streit trennen und die Unternehmen Puma und Adidas gründen. Einer von ihnen, Adi Dassler, erfindet 1954 jenen Schraubstollenschuh, mit dem eine junge Nationalmannschaft mit einem alten Trainer das Fritz-Walter-Wetter gemeistert hat.
In der Universitätsbibliothek von Portland im US-Bundesstaat Oregon könnte man die Abschlussarbeit von Phil Knight einsehen und erfahren, wie der sich im Jahr 1962 die Zukunft der Turnschuhproduktion vorgestellt hat: Verlagerung der Produktion in südostasiatische Billiglohnländer. Auf den Schuhen, die Knight ab 1972 mit seiner Firma Nike produzieren sollte, war dann schon „Made in Taiwan“ zu lesen. Puma und Adidas reagieren und produzieren zunächst im damaligen Jugoslawien.
Man müsste über Werkstoffe plaudern. Über leichtes Nylongewebe, was bald das schwere Leder der Laufschuhe ablöst. Und über ein Gasgemisch, das der Schuhentwickler Bill Bowerman 1979 in die Ferse des „Nike Air Talwind“ packt. Dass es Luft sei, die da den Tritt des Läufers dämpft, ist nichts weiter als der erfolgreichste Marketinggag der Turnschuhgeschichte.
Wie gesagt, man könnte. Und würde das Wesen eines der manifestesten dinggewordenen Zeichensysteme der Nachkriegsmoderne doch kaum zu fassen bekommen. Würde von Produkten reden – und die Benutzer außen vor lassen. Anders gesagt: Wie die Mods aus dem London der frühen Sechziger den Motorroller neu erfanden und das preisgünstige Fortbewegungsmittel zum komplexen Zeichensystem umgedeutet haben, wie Marcel Duchamp ein Pissoir zum Kunstwerk, zum Ready Made umdeuten sollte, so definierte sich auch der Turnschuh durch die Epochen gerade in den Aneignungspraktiken seiner Benutzer.
„Jetzt muss er die Turnschuhe ausziehen“, titelte Bild, als ein gewisser Thomas Gottschalk Mitte der Achtziger zum „Wetten, dass …?“-Gastgeber wurde. Kurz war im hessischen Landtag sogar ein Turnschuhminister vereidigt worden. Joschka Fischer und seine „Nike Legend“-Basketballstiefel. Im gleichen Jahr, 1984, widmet die New Yorker HipHop-Crew RunDMC den Sneakers – genauer: dem „Adidas Superstar“ – eine Hymne: „Me and my Adidas do the illest things we like to stomp out pimps with diamond rings, we make a good team, my Adidas and me“.
Kurz – wahrscheinlich zu kurz gedacht – sind Sneakers die Jeans für die Füße. Oder vielleicht umgekehrt. Ein einfaches Zeichen nach außen – dort die andere Hose, hier der andere Schuh. Ein hochkomplexes, verästeltes Zeichensystem nach innen – wie sehen die Nähte von deiner Levi’s aus, welche Schnürbänder trägst du in deinen Retro-Pumas, wo krieg ich den grünen New-Balance-Schuh her, der eigentlich nur für den japanischen Markt produziert wurde? Für solch knifflige Fälle übrigens ist der Berliner Laden „Solebox“ eine feine Adresse. Wahrscheinlich kann man sogar so weit gehen, im Sneaker-Universum nicht nur den größtmöglichen, längst nicht mehr auseinander zu dividierenden Melting-Pot zwischen globalen Makroökonomien und lokalen, subkulturellen Milieus auszumachen.
Gutmenschen haben manchmal ein Problem damit, dass sich das Kind aus der Bronx oder Bochum-Wattenscheid, das den neuesten Nike-Sneaker begehrt, nicht für die Sweatshops in den asiatischen Turnschuhfabriken interessiert. Gleichzeitig aber tragen diese Kids ihre Sneaker mit mehr Stolz, als je ein S-Klasse-Lenker für seinen Wagen aufbringen wird.
Ein Marketingerfolg, den all die Turnschuhgenerationen seit den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts den großen Marken frei Haus geliefert haben. Die Herren von Adidas mussten das postfeministische HipHop-Aushängeschild Missy Elliot zumindest nicht lange bitten, eine Streetwear-Kollektion mit den drei Streifen zu designen. „It’s like a homecoming“, so Missy Elliots trefflicher Kommentar.
Und das ist es wohl auch, was der Turnschuh allem übrigen Schuhwerk voraus hat. Seine Logos – der Nike-Swoosh, der Converse-Stern oder die Adidas-Streifen – sind Markierungen der Erinnerung. Wer erinnert sich schon noch an die schwarzen Halbschuhe, die er zum Konfirmationsanzug trug? Aber die ersten Basketballstiefel! Wir haben sie nachts mit ins Bett genommen. Und zum ersten Mal im Leben Schuhe geputzt.
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