Geheimhaltung der Schmücker–Akten unrechtmäßig

■ Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts liegt vor / Später juristischer Teilerfolg nach dem Urteil im Schmücker–Prozeß

Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - In dem bisher längsten Verfahren der bundesdeutschen Justizgeschichte, dem sogenannten Schmücker–Prozeß, hat der Berliner Innensenat dem Gericht und den Verteidigern der Angeklagten zu unrecht wichtiges Aktenmaterial des Verfassungsschutzes als geheimhaltungsbedürftig verweigert. Dies entschied jetzt, zwei Monate, nachdem die 13. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts die Hauptangeklagte des Schmücker– Prozesses, Ilse Schwipper, erneut zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt hatte, das Bundesverwaltungsgericht. Acht Jahre lang hatte die wegen Mordes an ihrem ehemaligen politischen Mitkämpfer Ulrich Schmücker Angeklagte Ilse Schwipper vergeblich versucht, durch verschiedene Verwaltungsinstanzen die Herausgabe der Verfassungsschutzakten zu erzwingen. Aus diesen Akten erwarteten sie und ihre Verteidiger wichtigen Aufschluß darüber, mit wem der 1974 ermordete Ulrich Schmücker kurz vor seinem Tod Kontakt hatte. Denn unbestritten ist, daß Schmücker nicht nur Informant des Verfassungsschutzes über die damalige linke Szene war, sondern daß er selber bis kurz vor seinem Tod - und vielleicht auch an seinem Todestag noch - vom Verfassungsschutz observiert worden war. Mit dem Argument, dem „Wohl des Bundes und des Landes Berlin“ würden durch eine Offenlegung der beim Verfassungsschutz über Ulrich Schmücker existierenden Akten „nicht wiedergutzumachende Nachteile“ entstehen, hatte der Berliner Innensenat acht Jahre lang erfolgreich diese für den Prozeß möglicherweise entscheidenden Akten verweigert. Mit demselben Argument wurden auch die Verfassungsschutzakten über einen anderen, inzwischen verstorbenen Belastungszeugen vom Innensenat für „gesperrt“ erklärt. Über Jahre hinweg hatten das Berliner Verwaltungs– und Oberverwaltungsgericht diese Aktenverweigerung für rechtens er klärt. Zwar habe die Hauptangeklagte des Verfahrens, Ilse Schwipper, einen Anspruch auf einen rechtmäßigen und fairen Prozeß, was auch den Zugang zu Beweis– oder Aufklärungsmaterial betrifft, doch schätzten die Richter das Geheimhaltungsbedürfnis des Verfassungsschutzes, das sogenannte „Wohl des Landes“ höher ein. Wenn der Berliner Innensenator erkläre, durch die Offenlegung der Akten entstünden dem Staat „nicht wiedergutzumachende Nachteile“, weil dadurch auch die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes beleuchtet würde, so sei das als glaubhaft anzusehen, hatten die Richter in den Vorinstanzen erklärt. Außerdem habe Frau Schwipper nicht beweisen können, warum die Verfassungsschutzakten - deren Inhalt sie garnicht kennen konnte - für den Prozeß wichtig seien. Dieser Rechtsauffassung haben jetzt die höchsten deutschen Verwaltungsrichter eine Ohrfeige erteilt. Nach einer mündlichen Verhandlung am 19. August hoben die Richter des 1. Senats des Bundesverwaltungsgerichts jetzt die Urteile der Vorinstanzen auf. Der Berliner Innensenator - so jetzt der Urteilstenor - war nicht berechtigt, die Aktenherausgabe mit den Argumenten zu verweigern, mit denen er sie jahrelang verweigert hat. Ob der Innensenat sie aus anderen Gründen hätte „sperren“ dürfen, oder ob für ein Strafverfahren relevante Verfassungsschutzakten grundsätzlich offengelegt werden müssen, ließ das Bundesverwaltungsgericht in seiner bisher erst mündlich mitgeteilten Entscheidung offen. Die schriftliche Urteilsbegründung dürfte jedoch über den Schmücker–Prozeß hinaus von prinzipieller Bedeutung sein. Denn in diesem Rechtsstreit ging es um den grundsätzlichen Streit, inwieweit sich der Verfassungsschutz in die Karten gucken lassen muß oder ob er sich mit dem Argument, ein Einblick in seine Akten würde seine Arbeitsweise gefährden, zu einer für normale Sterbliche unerreichbaren Geheimbastion erklären darf. Für den Schmücker–Prozeß selber wird diese positive Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts noch mittelbare Bedeutung haben. Da die 13. Große Strafkammer - entgegen vorheriger Zusagen - die Entscheidung der Bundesverwaltungsrichter nicht mehr abwarten wollte und schon am 3. Juli ihr Urteil verkündete, kommt der Berliner Verfassungsschutz auch dieses Mal darum herum, die Akten über Ulrich Schmücker offenzulegen. Für das Revisionsverfahren, das die Anwälte von Ilse Schwipper vor dem Bundesgerichtshof anstrengen werden, ist die höchstrichterliche Entscheidung der Bundesverwaltungsrichter jedoch ein weiterer wichtiger Mosaikstein. Fest steht dadurch nämlich nicht nur, daß der Berliner Innensenat zu unrecht „gemauert“ hat, sondern auch, daß das Berliner Landgericht sich auf eine zumindest in der Argumentation rechtswidrige Entscheidung gestützt hat, als es im Juli dieses Jahres Ilse Schwipper auch im dritten Prozeß–Durchlauf wegen Mordes zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilte.