Gesundheitssystem macht krank

■ Die Moskauer Prawda kritisiert das sowjetische Gesundheitswesen / Schmiergelder für Behandlungen / Neun Tage Beförderungszeit für einen Brief vom Nebenzimmer des Ministeriums

Von Friedhelm Wachs

Berlin (taz) - Die Parteizeitung Prawda hat am Montag die Zustände im sowjetischen Gesundheitswesen scharf kritisiert und die Ministerialbürokratie zum großen Teil dafür verantwortlich gemacht. Allein 1985 hätten sich 66.000 Patienten in Beschwerdebriefen über unhöfliche und schlecht ausgebildete Ärzte und überfüllte Krankenhäuser beklagt. Teilweise seien sie zur Zahlung von Schmiergeldern erpreßt worden, um die nötigen Behandlungen zu bekommen. Weiter schrieb die Prawda, die Ausbildung an den Universitäten sei so mangelhaft, daß die jungen Ärzte manchmal eine ganz einfache Operation nicht durchführen könnten. „Besonders akut ist das Defizit der Barmherzigkeit“, beklagte das Parteiorgan die Haltung der Ärzte gegenüber den Patienten. Auch fehle es an wesentlichen Arzneimitteln und medizinischem Gerät. Vor allem griff die Prawda den Amtsschimmel in der Bürokratie des Gesundheitsministeriums an. So schrieben sich manchmal Mitarbeiter des Ministeriums Briefe, obwohl ihre Zimmer direkt nebeneinander lägen. Statt solche Briefe dann wenigstens im Nebenzimmer abzugeben, würden sie auf dem Dienstweg verschickt und kämen in der Regel erst fünf bis sechs Tage später im Nebenzimmer an. Dort warte das Schreiben dann wiederum einige Wochen auf seine Bearbeitung, bevor es wieder die Rückreise antrete. Allein im vergangenen Jahr seien 9.000 Briefwechsel dieser Art geführt und registriert worden. Zwar habe Gesundheitsminister Sergeij Burenko seinem Ministerium ein Rezept zur Heilung verschrieben, doch sei eine Besserung des Zustandes in der Gesundheitsbürokratie nicht erfolgt. Bisher reagiere das Ministerium überhaupt nicht auf öffentliche Kritik. Ein stellvertretender Minister sei lediglich ermahnt worden, nachdem öffentlich bekannt wurde, daß er sich mit Mitteln des Ministeriums ein Wochenendhaus gebaut habe. Trotz massiver Kritik seien in den letzten zwei Jahren nur 165 leitende Mitarbeiter der Behörde entlassen worden, und dies auch nur auf Initiative von außen. Ausländische Beobachter in Moskau sehen in der scharfen Kritik der Prawda und der ausbleibenden Reaktion einen wachsenden Machtkampf zwischen der Parteiführung und der Bürokratie, in dem sich letztere auch der öffentlichen Meinung widersetzt.