Im Fallout der Alternativ–Wissenschaft

■ Wiener Gegen–Konferenz für Reaktorunsicherheit diskutiert Ausstiegsszenarien für Europa und USA / Ausstiegsdebatte wurde vor allem auf europäischer Ebene geführt / Forderung nach Ausstieg aus der Industriegesellschaft blieb ausgespart

Aus Wien Manfred Kriener

Ausstieg in der Bundesrepublik, Ausstieg in Italien, Ausstieg in Großbritannien, in Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden, USA, Jugoslawien. „Wo bleibt Liechtenstein?“, stöhnt der Kollege vom österreichischen Magazin Falter, der wie viele Teilnehmer der Wiener Reaktorunsicherheits– und Gegenkonferenz zur IAEO von der Materialfülle erschlagen wird. Situationsberichte und Szenarien aus aller Herren Länder. Der wissenschaftliche Fallout dieser Konferenz sprengt jeden Grenzwert und Eckart Strahtmann (Grüne/BRD) mußte die Teilnehmer im Ausstiegs–Forum mit Recht daran erinnern, daß dies auch eine politische Veranstaltung und keine reine Wissenschaftskonferenz sei. Auch am zweiten Tag drängelten sich die Wissenschaftler in den beiden Foren, mit dem Unterschied, daß ihr Zeitlimit pro Referat von 15 auf 10 Minuten reduziert wurde, „damit mehr Zeit für die Diskussion bleibt“. So feierte die Oberflächlichkeit neue Triumphe, für jede Overhead–Folie blieb ein Satz, aber immerhin wurde durch die vielen Referenten halb Europa „abgedeckt“. Aussteigen wollen alle. Aber wie? In Italien scheint das noch am leichtesten möglich. Nur 3,6% Atomstromanteil, nur 3.200 Arbeitsplätze, die an der Atomenergie hängen, wie Giovanni Mattioli berichtete. Die mächtigen staatlichen Erdölgesellschaften, die Erdbebengefahr und die hohe Bevölkerungsdichte Italiens hätten den starken Ausbau der Atomenergie verhindert. Aus Frankreich sollen drei Zahlen genügen, um die nukleare Gefangenschaft zu dokumentieren: 61 in Bau und Betrieb befindliche Reaktoren, zwei Drittel der Stromversorgung hängen am AKW, vier Millionen Wohnungen werden mit Strom beheizt. Da kann Jup Weber vom atomfreien französischen Nachbarn Luxemburg beim Blick über den Grenzbalken nur schlucken: „Wir stehen ziemlich machtlos da“. Weber forderte denn auch eine europäische Energiepolitik. Ein Ausstiegsszenario dürfe nicht für einzelne Länder, sondern müsse für ganz Europa entwickelt werden. Aber auch diese Beschränkung auf Europa ist eigentlich noch zu kurz gegriffen. Von der Vertreterin aus Hongkong mußten sich die Europäer/innen nationalen Egoismus vorwerfen lassen. Die Teilnehmerin aus Hongkong protestierte, weil in der Ausstiegsdebatte die Frage des Nuklear–Exports ignoriert werde. Angesichts der durch Tschernobyl ausgelösten Depression der Atomgemeinde und der Ausstiegsinitiativen verschiedener europäischer Länder sei, so ihre Argumentation, die Atomindustrie stärker auf Exporte angewiesen und werde versuchen, in den Entwicklungsländern neue Märkte aufzutun. Andererseits: Die Entwicklungsländer orientieren sich wiederum an den Industrieländern und werden deren Energiepolitik genau verfolgen. Besonders starken Applaus erhielt die Aktivistin aus Hongkong von Jose Allende. Der Urbanistik– Professor aus Bilbao, der bisher auf der Konferenz nicht zu Wort kam, stammt aus einer Region, wo der Ausstieg bereits vollzogen, herbeigebombt wurde. Das Baskenland ist AKW–frei, elf Menschen sind bei den Kämpfen um Lemoniz und andere Standorte getötet worden. Einem Basken, so glaubt Allende, werde man hier in Wien nicht das Wort erteilen. Eine neue politische Konjunktur erlebt Friedmann Müller– Reismann. Der Alternativ–Wissenschaftler, für dessen Ausstiegsszenario für die BRD sich vor zwei Jahren „kein Schwein interessiert hat“ ist heute on Top. Er erhärtete mit vielen Zahlen die Thesen von Eckart Strathmann. Für die BRD sei der Ausstieg innerhalb eines Jahres mit den bestehenden Kraftwerkskapazitäten ohne zusätzliche Schadstoff–Belastungen möglich, noch bevor neue Alternativ–Energien entwickelt werden. Müller–Reismann scheute sich allerdings auch nicht „eine Überprüfung unserer Lebensformen“, „unseres verschwenderischen Lebensstils“ zu fordern. Langfristig führe neben der technischen kein Weg an der sozialen Energieeinsparung vorbei, weil man auch den Einsatz der fossilen Energieträger reduzieren müsse. Dies war auch schon das radikalste Konzept der Wiener Diskussion. Den Ausstieg aus der Industriegesellschaft als Konsequenz für die Ausstiegsforderungen aus der Atomenergie mochte keiner so dezidiert proklamieren. Die Diskussion blieb immanent und das Nebensätzchen „bei gleichzeitiger Bewahrung unseres Lebensstandards“ begleitete brav alle Ausstiegs– und Umstiegsszenarien. Bei den Strategie–Überlegungen für den Ausstieg scheint der Vorschlag von Gerald Häfner für eine europaweite Initiative „Volksentscheid gegen Atomanlagen“ Gefallen zu finden. Nach dem Vorbild der österreichischen Zwentendorf–Abstimmung sollen in ganz Europa Initiativen für Volksabstimmungen für den sofortigen Ausstieg laufen. Und der sei dringend nötig, solange statistisch gesehen die „Chance“ eines neuen GAU deutlich größer sei als die auf einen Sechser im Lotto.