Mit angelegten Flügeln in die Wahl

■ Nürnberger Parteitag der Grünen / „Offener Brief an alle Wählerinnen und Wähler“ soll den Wiedereinzug in den Bundestag garantieren Angebot zur Zusammenarbeit mit der SPD ohne Minimalbedingungen / Fundis enttäuscht / Grüne fordern Bleiberecht für Flüchtlinge

Von U. Sieber und B. Siegler

Nürnberg (taz) - Mit einem „offenen Brief an alle Wählerinnen und Wähler“ warnen die Grünen vor einem „Rückfall in die geschlossene Gesellschaft“. Eine entsprechende wahlpolitische Erklärung hat der Nürnberger Parteitag der Grünen am späten Samstagabend nach rund achtstündiger Diskussion mit 23O:188 Stimmen verabschiedet. Die Erklärung trägt die Handschrift der NRW– Spitzenkandidatin Antje Vollmer und wurde u.a. vom NRW–Landesvorstand und NRW–Bundestagskandidaten unterzeichnet. Schwerpunkte des Parteitages waren darüberhinaus die Asylpolitik und die Verabschiedung eines Frauenstatuts. Die Initiative will die Partei aus den Flügelkämpfen in ihrer Haltung zur SPD herausführen. Im Vordergrund steht die Sorge, die Grünen könnten bei der Bundestagswahl an der Fünf–Prozent– Hürde scheitern. Die Grünen seien „Anwälte des Lebens“, „die erste pazifistische und emanzipatorische Partei“ der Nachkriegszeit und die Partei der „Minderheitenrechte“, heißt es in dem Brief. Alle Versuche, die Grünen von der parlamentarischen Ebene zu vertreiben, seien zum Scheitern verurteilt. Der SPD bietet der Vollmer– Antrag eine Zusammenarbeit an. Die Form - ob Tolerierung oder Koalition - bleibt aber offen. Auch werden für eine Zusammenarbeit keinerlei Minimalbedingungen formuliert. Die Einschätzuung der SPD ist in dem Brief vergleichsweise moderat gehalten. Vorstandssprecher Trampert kommentierte das Ergebnis: „Wir wollten etwas Politisches entscheiden und nicht das Nichts“. Der Vollmer–Brief habe diejenigen, die Spielräume offenhalten wollen und die Realos, auf sich vereinigen können. Zum Glück hätten nur 55 Prozent diese „listige Beliebigkeit“ gewollt. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Das Vorstandsmitglied Regina Michalik zeigte sich erstaunt, daß diese „pastorale und besänftigende Erklärung“ die Delegierten beeindrucken konnte. Der Realpolitiker Wiesenthal sagte, es handele sich um eine „Second–best– Lösung“. Von Vorteil sei, daß der Antrag nichts festlege. Aber er tauge nichts für eine Strategie. Von Realpolitikern um Hubert Kleinert, Otto Schily und Joschka Fischer lag ein Antrag vor, der mit dem Vollmer–Antrag nahezu identisch war: Nur pastoral klingende Formulierungen waren aus dem Vollmer–Brief gestrichen und einige Sätze zur SPD leicht verändert worden. Als Realo–Antrag fand er jedoch keine Mehrheit. Doch verloren hat in Nürnberg vor allem die fundamentalistische und ökosozialistische Linke. Abgelehnt wurden ebenfalls alle Modelle für eine Tolerierung einer SPD–Minderheitsregierung, wobei das „harte“ Tolerierungskonzept der Ökosoziali sten Trampert und Ebermann mit ca. 4O Prozent noch am meisten Stimmen erzielte. Gegen den Verdacht, den „Durchmarsch“ der Realos zuzulassen, wurden gestern nachmittag Zusätze beschlossen. So soll ein Parteitag am 31. Januar einen möglichen Verhandlungsauftrag formulieren und eine Kommission bestellen. Inhaltlich wurde nur der Zusatz aufgenommen, die Grünen hielten an der „Forderung nach einem Ausstieg aus der Atomenergie und dem Abzug der Raketen“ fest. Grüne zu Asyl Mit dem nur bei wenigen Gegenstimmen beschlossenen Antrag „Alternative Flüchtlingspolitik“ setzte die Bundesversammlung der Grünen in der Asylfrage neue Akzente. Neben der Unantastbarkeit des Grundrechts und dessen Wiederherstellung gilt das sog. „Bleiberecht“ als zentrale Forderung der Grünen. „Alle Flüchtlinge, die nicht als politisch Verfolgte anerkannt werden können, aber aus Krisen– und Notgebieten aus Angst um Leben und Gesundheit geflohen sind“ sollen dieses Recht erhalten. Das Bleibe recht soll in jedem Fall „Freizügigkeit, Arbeitserlaubnis und Sozialhilfeberechtigung“ verschaffen. Christian Stroebele, der die von der Bundesversammlung angenommene Resolution des Flüchtlingskongresses in Berlin dem Plenum vorstellte, wies darauf hin, daß das Bleiberecht nicht nur „eine humane, sondern eine politische Verpflichtung“ sei und ebenso wie das Grundrecht auf Asyl „demonstrativen Charakter gegen Unrechtsregimes“ besitze. Neben dem Nein zu einer Grundgesetzänderung müsse die Entwertung des Artikel 16 durch die jüngsten Regierungsbeschlüsse oder die jahrelange Praxis der Verwaltungsgerichte rückgängig gemacht werden. Gerade angesichts der bisherigen Asylpraxis und der Vereinbarungen der BRD mit der DDR (“ein erbärmlicher Tiefpunkt in der politischen Kultur dieses Landes“ Lukas Beckmann) tue „aktive Fluchthilfe not“, so Christian Stroebele. Für die Grünen reicht nach den jüngsten Vereinbarungen der Bundesregierung mit der Volksrepublik Polen, Bulgarien, Ungarn und der Türkei die „Ab schottunsgewalt der Bundesregierung bis an den Bosporus“. Bonn (dpa) - Der Verlauf der Bundesversammlung der Grünen in Nürnberg zeigt nach den Worten von SPD–Vorstandssprecher Wolfgang Clement, daß diese Partei nur noch in taktischen Kategorien denkt. Politik finde dabei nicht mehr statt. Kennzeichnend dafür seien die offenbar nie endenden Konflikte mit der Sozialdemokratie, die auch den Nürnberger Kongreß beherrschten, sagte Clement. Es sei „ein Witz“, zu glauben, die SPD und ihr Kanzlerkandidat Johannes Rau stünden einer Partei als Partner zur Verfügung, die zwischen Koalitions– und Tolerierungsangeboten einerseits und Verantwortungslosigkeit andererseits hin– und hertaktiere.