Vierhundert mal vierhundert Meter: Chatila

■ Vier Jahre nach den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Chatila besuchte Petra Groll die Jugendlichen des Camps „Kein Mensch braucht Heilung von seiner individuellen Krankheit - sein universales Leiden ist es, um das er sich kümmern sollte.“ (Dr. OConnors in „Nachtgewächs“ von Djuna Barnes)

In Fiumincino, dem Römer Flughafen, auch in Karachi, als wer weiß wie viele Fluggäste starben, heißt es, seien Jugendliche Mörder aus Sabra und Chatila es gewesen, die dort im Blut ihrer Opfer gebadet hätten. Entschuldigung? Rechtfertigung? Rächermentalität? Knapp eine Stunde vor der Feier reißt eine Handgranate das Gespräch auseinander. Debbkeh, Folklore–Musik und Tanz im Gedenken an die Massaker von Sabra und Chatila. Kurz vor 16 Uhr wuseln die Leute aufgeregt schwatzend durch die schmalen Gassen des Flüchtlingslagers am Rande der libanesischen Hauptstadt. Gassen so schmal, daß eine Kinderleiche sie blockieren kann, schrieb Jean Genet, als er 1982 über die Massaker berichtete. Noch weiß man nicht, wer eben die Handgranate entsichert und geworfen hat. Alarm. Die vom Camp–Komitee gestellten Sicherheitstruppen streifen hektisch ihre blutroten Binden über den Oberarm, eilen zum Schauplatz. Bald stehen sie, Kalashnikov im Arm, an allen neuralgischen Kreuzungen. Fetzen von Funksprüchen, nichts passiert, keine Verletzten. 20.9.86. Vor vier Jahren wurde das Massaker von Sabra und Chatila aufgedeckt. Die palästinensischen Flüchtlingslager am Rande Westbeiruts waren von israelischen Einheiten umstellt. Nach mehr als zweimonatigem Krieg hatten fast 14.000 palästinensische Feddayin den Libanon verlassen. Frieden für Galiläa. „Die politische und militärische Infrastruktur der PLO im Libanon wurde vernichtet“, lautete damals die israelische Erfolgsmeldung der Operation „Friede für Galiläa“. Zwei Tage lang (16. und 17. September 82) wüteten Messer, Äxte, Gewehre und Bulldozer in Sabra und Chatila. In Menschenleben, für deren Sicherheit der US–Unterhändler Phillip Habib die Verantwortung übernommen hatte. Unter den Augen der israelischen Besatzer wüteten die Hände ihrer Verbündeten, libanesischer Faschisten. Ganze Familien wurden ausgerottet. Der Korrespondent der taz in Beirut zog damals die schreckliche Bilanz: Wohl an die 2.000 Menschen wurden Opfer des 36 Stunden währenden Massenmordes. Die Welt nahm das Ereignis mit Schauern zur Kenntnis, „man wird sich erinnern müssen“, orakelten die Medien, „mit dieser Generation der Palästinenser wird nicht gekannte Brutalität heranwachsen“. Vier Jahre später. 18.09.86 Ein gutes Dutzend Jugendlicher beobachtet vom Balkon eines ausgebrannten Hauses ein Fußballspiel. Harte Schüsse. Der Platz ist viel zu klein, knapp die Hälfte eines wirklichen Fußballfeldes. Eine größere freie Fläche gibt es in Chatila nicht mehr. Das ganze Flüchtlingslager ist nur noch 400 mal 400 Meter groß. Dort leben derzeit um die 5.000 Menschen. Natürlich haben sie ihren Maradona hier. Viel attraktiver nur als das italienische Original. Ein drahtiger, braungebrannter Typ, dunkelblonde Löwenmähne, Torjäger der Saison, Wirbelwind im schmutzigen Sand. 150 Meter weiter vielleicht schla gen mit Getöse ein paar Granaten ein. Libanesische Milizen aus Ost– und Westbeirut beschießen sich über die grüne Linie hinweg. Aufgewirbelter Staub verschleiert für ein paar Minuten die Fahne der Schiitenbewegung Amal, die weithin sichtbar über den Ruinen flattert. Gegenfeuer peitscht aus Automatikgewehren. Keine echte Gefahr, aber das Match wird abgebrochen. Die Jugendlichen versammeln sich auf den Pritschen ihrer Unterkunft. Sie gehören Yassir Arafats Organisation El Fateh an. Omar S., ein überaus pummeliger Junge, erinnert sich: Wohl hätten sie gehört, daß uniformierte Horden Hütte für Hütte durchkämmten, Schießereien. Er sei auf Erkundung gegangen. In den Straßen Leichen. Am Rande von Sabra angekommen, habe man ihm gesagt, es herrsche Waffenstillstand. Eine Delegation, die die Lagerbewohner mit weißen Fahnen zum israelischen Hauptquartier geschickt hatten, sei erfolgreich gewesen. Damals konnte Omar ja nicht wissen, daß diese mutigen alten Männer nie wieder lebend gesehen wurden, das israelische Hauptquartier an der kuwaitischen Botschaft, just am Eingang von Chatila, wohl niemals lebend erreichten. Der Onkel war tot, als der Junge zurückkam. Erst jetzt wird die Stimme, die zu berichten gerade gedrängt hatte, schwächer. Beim Brotholen haben die Mörder den Alten erwischt. Sie schickten Jugendliche über Minenfelder, den Weg durch die Lager zu bahnen. Minenfelder, die die Verteidiger der Camps gelegt hatten, lange bevor sie aus Beirut evakuiert wurden. Ein paar Jungen versuchten „Irre“ zu spielen, sich torkelnd und stolpernd durch die Reihen der Schlächter zu schmuggeln. Omars pausbäckiges Gesicht grient eine Mimik von Schwachsinn. Amer, heute 15 Jahre jung, erinnert sich, den damaligen Chef der südlibanesischen Marionetten–Miliz Israels, den Major Saad Haddad an der kuwaitischen Botschaft gesehen zu haben. Ariel Sharon, der verantwortliche Kriegstreiber Israels, sei dagewesen, schreit ein anderer dazwischen. Ahmed versuchte mit seiner Mutter zum Akka–Hospital zu gelangen. Dort fanden sie die Kadaver von Patienten. Sie sahen, wie ein Mann an Krücken erschossen wurde. Ärzte und Krankenschwestern wurden wie Schafe durch die Straßen getrieben. Fünf der 17 Jungen waren 1982 hier in Chatila, aber die kollektive Erinnerung hat ganz offensichtlich jedem von ihnen ein deutliches Bild gemalt. Assem drängelt mit Fotos aus seinen glücklichen Tagen. Da steht er mit zwei Freunden vor dem schnuckeligen Häuschen in Sabra. Das grüne Geranke um die Haustür könnte Jasmin sein. Ein charmanter Kerl, schnell gewachsen, Hochwasserhosen. Da lachen sie und halten sich im Arm, strahlend, ausgelassen, in der Sonne. Dann, sein Arm zeigt auf das Paar Krücken in der Ecke, dann kam das. Geschwind krempelt er seine Hosenbeine hoch. Ohne Scheu. Die Journalistin soll der Welt von seinen Beinen berichten. Haut, die lange nicht mehr von der Sonne beschienen wurde. Noch heller, wo sie wieder zusammengezogen wurde. Deformierter Knochen unter den ersten schwarzen Haaren, die das Narbenchaos wohl nie verbergen können. Seit einem Jahr trainiert Assem mit den Krücken, die Fotos trägt er stets in der Gesäßtasche seiner viel zu langen Hose. Sie schieben Wache zusammen, putzen die Waffen, nehmen sie auseinander, setzen sie wieder zusammen, manche können das sogar mit verbundenen Augen. Alle können mit Kalashnikovs (AK 47), M 16, B 7, schießen, haben den Umgang mit Handgranaten geübt, können Minen legen, Sprengsätze bauen. Und sie alle haben in den vier Runden der Beiruter Lagerkriege (seit 85) Sabra und Chatila verteidigt. Daher kommt auch Assems Beinverletzung. Hat einer von ihnen schon mal jemanden umgebracht? Zwei sagen ja. Milizionäre der Schiitenbewegung Amal, die das Camp belagert. Die meisten können Chatila nicht verlassen, denn die Belagerer kennen sie. Besonders in Sabra haben Palästinenser und Libanesen immer Tür an Tür gelebt. Teilweise sind es Freunde von früher, die jetzt als Feinde an den Posten rund um Chatila Wache schieben, als Scharfschützen in den zerbombten Häusern rundum lauern. Früher sind sie zusammen zur Schule gegangen, haben zusammen Fußball gespielt, mit den gleichen Mädchen geschäkert. Der Krieg um die Lager ist noch nicht zu Ende.