Amputierte: Die Opfer der Sharia im Sudan

■ Diejenigen, denen unter Nimeiry die Hand abgeschlagen wurde, warten noch heute auf ihre Rehabilitierung Sie sind die Parias der Gesellschaft / „September Amputees Union“ wurde als ihre Interessenvertretung gegründet

Aus Khartoum Francois Misser

Omar, 30 Jahre alt und von Beruf Fahrer, wurde im Oktober 1983 verhaftet. Wegen Verdachtes auf Mittäterschaft beim Diebstahl eines Aktenkoffers wurde er in das Gefängnis von Kobar überführt, wo er 17 Tage lang jeden Tag die Prügelstrafe erhielt, bevor er zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde. „Als ich das erfahren habe, wollte ich in Berufung gehen“, sagt er. Damit war er schlecht beraten. In der zweiten Instanz verurteilte ihn das Gericht zur „Cross–limb–amputation“, die neun Monate danach ausgeführt wurde. Die „cross–limb–amputation“, die kreuzweise Amputation von Gliedern, bedeutet das Abhacken der rechten Hand vom Handgelenk an, verbunden mit dem Abhacken des linken Beins vom Knie an. Handabhacken wie auch die „cross–limb–amputation“ sind integraler Bestandteil der „Sharia“, des islamischen Rechts, das im September 1983 vom damaligen Diktator Nimeiry für den ganzen Sudan dekretiert wurde. Zwar schaufelte er sich damit politisch das Grab, denn der christliche und animistische Süden des Landes war nicht gewillt, sich den funda mentalistisch–islamischen Gesetzen zu unterwerfen, und nahm den bewaffneten Kampf gegen Nimeiry wieder auf, und auch die gemäßigten Moslems im Norden brachte er damit gegen sich auf. Dennoch schuf er damit Fakten, die seinen Sturz im Frühjahr 1985 überdauern sollten. Der im vergangenen April gewählte Premierminister Sadiq el– Mahdi hatte zwar schon vor seiner Wahl erklärt, die Gesetze Nimeirys durch eine moderatere Form islamischer Rechtsprechung ersetzen zu wollen, doch seitdem gehen die Monate ins Land, und noch immer sind die alten Gesetze gültig und werden in wechselnder Schärfe angewandt. Vor allem die Opfer der Sharia, die Amputierten, warten jedoch seitdem vergeblich auf ihre Rehabilitation. 200 bis 300 werden es im ganzen Land sein, davon sechzig, die die „cross–limb–amputation“ über sich ergehen lassen mußten. Etwa siebzig von ihnen haben im September letzten Jahres die Vereinigung „September Amputees Union“ gegründet und in Omdurman, der Zwillingsstadt von Khartoum, in den Räumen des deutschen Photographen Peter von Arnim ihr provisorisches Hauptquartier eingerichtet. „Du bist doch nur ein Dieb“ John Ruben, der christliche Generalsekretär der Vereinigung, ist wie viele seiner Leidengenossen noch jung: erst zwanzig Jahre alt. Aber er ist einer der wenigen, die lesen und schreiben können. Deshalb ist er gewählt worden. Nach einigen Studienjahren an der Handelsoberschule von Juba, einer Stadt im Südsudan, war er auf der Suche nach Arbeit nach Khartoum gekommen. Schließlich fand er einen Job als Tischler auf einer Baustelle. Verdächtigt, ein Bündel Holz gestohlen zu haben, wurde er wie der Fahrer Omar im September 1984 im Gefängnis von Kobar amputiert, ohne die Gelegenheit zu einer wirklichen Verteidigung erhalten zu haben. Damit war sein Leidensweg allerdings noch nicht beendet. „Ein paar Tage nach der Amputation bin ich freigelassen worden. Ich bin sofort zum Krankenhaus gegangen, wo man mich nach einem Tag weggeschickt hat, ohne mich zu versorgen. Als ich ihnen sagte, daß mein Handgelenk mir wehtue, antworteten mir die Krankenschwestern: Wieso sollten wir dich versorgen? Du bist doch nur ein Dieb!“ Nur wenige können sich eine medizinische Behandlung leisten. Wie auch, wenn es schon so schwer ist, überhaupt den Lebensunterhalt zu bestreiten? Für viele hat die Amputation zudem zum Bruch mit der Familie geführt. Entweder hat die Familie sie verstoßen, oder sie selbst wollten der Familie die „Schmach“ der Existenz eines zumindest vermeintlichen Diebes in ihren Reihen ersparen. Einige doppelt Amputierte haben die Erlaubnis zur Eröffnung eines Zeitungskiosks erhalten. Die meisten jedoch müssen von Almosen leben. Die behördliche Anerkennung ist nur eine der Schwierigkeiten der „September Amputees Union“. John Ruben versucht verzweifelt, die anderen Amputierten zu finden, die sich in den Busch zurückgezogen haben und sich nicht an die Öffentlichkeit wagen. Darüber hinaus besteht mit Ausnahme einiger kleiner englischsprachiger Zeitungen ein fast völliger Blackout über das Thema in arabischsprachigen Zeitungen und Radios. Trotzdem müssen sie irgendwie leben. Wer keine Unterstützung erhält, ist dazu verdammt, in den Müllhalden umherzuirren und sein Domizil in einem Autowrack aufzuschlagen oder sich mit Jutesäcken einen Unterstand zu bauen. Auch das Verhalten der Mitmenschen läßt zu wün schen übrig: „Wir werden sowohl von der Polizei wie von den Leuten geplagt. Die Polizei verhaftet uns oft wegen Vagabundierens, schlägt uns und steckt uns für ein paar Tage in den Knast“, beklagt sich eins der Opfer. Im Rahmen einer im Sudan „kasha“ genannten Polizeirazzia wurde John Ruben kurz nach seiner Amputation verhaftet und am darauffolgenden Tag zu 25 Peitschenhieben verurteilt. Die Umstände sind unklar: „Offiziell hat man mir Vagabundieren vorgeworfen. Aber als der Sicherheitsdienst mich verhaftet hat, haben sie mich beschuldigt, auf einer Versammlung des Sudanesischen Anwaltsvereins antireligiöse und regierungsfeindliche Reden gehalten zu haben“, erzählt John. Angesichts dieser gesellschaftlichen Ausgrenzung ist es nicht weiter erstaunlich, daß zwei Amputierte inzwischen Selbstmord begangen haben und 44 Amputierte erneut wegen angeblicher Delikte im Gefängnis sitzen. Einige sind in Gefahr, ein zweites Glied zu verlieren, denn sie gehören zu den etwa 50 zur Amputation verurteilten Gefangenen, die immer noch hinter den Gittern der sudanesischen Gefängnisse sitzen. Denn nach dem Sturz Nimeirys im April 1985 hatten einige Richter weiterhin Amputationsstrafen verhängt. Obwohl diese Urteile zur Zeit nicht vollstreckt werden, behindert die Fortdauer solcher Richtersprüche doch eine Rehabilitierung der Opfer, die sich wie eine Herausforderung der Richter ausnehmen würde. Trotz seiner vorherigen Versprechen hat sich der Premierminister Mahdi im vergangenen Mai dafür ausgesprochen, die „Septembergesetze“ von Nimeiry solange beizubehalten, bis ein Komitee islamischer Rechtsgelehrter einen neuen Text verabschieden würde. Angesichts der unterschiedlichen Interpretationen der Sharia durch die moslemischen Bruderschaften, deren Häupter dieses Komitee bilden würden, kann es jedoch noch lange dauern, bis ein Konsens gefunden wird. Dieser Konsens würde nur den Norden des Landes betreffen. Die Guerillagruppe SPLA unter der Führung von John Garang hat oft genug betont, daß eine islamische Rechtsprechung, so moderat sie auch sein möge, für sie als Nichtmoslems in keinem Fall akzeptabel ist. Sadiq el– Mahdi hingegen sieht sich offensichtlich politisch nicht in der Lage, eine laizistische Verfassung durchzusetzen. Die Leidtragenden sind dabei die Opfer der Sharia.