Kronzeugen ohne Titel

Offiziell hat es sie in dem bundesdeutschen Rechtssystem bisher nicht gegeben, tatsächlich weist jedoch die Geschichte der politischen Prozesse der letzten Jahre eine ganze Liste von faktischen Kronzeugen auf. Mit ihrer Aussagebereitschaft gegen ihre ehemaligen Genossinnen und Genossen erkauften sie sich Strafmilderung und Finanzhilfen beim Aufbau einer neuen Existenz. Durch ihre Angaben wurde zwar kaum einer der steckbrieflich gesuchten „Terroristen“ gefaßt, aber ohne ihre belastenden Aussagen wären zahlreiche Anklagen der Bundesanwaltschaft gegen politische Gefangene zusammengebrochen. Karl–Heinz Ruhland hieß einer der ersten Kronzeugen, der Anfang der 70er Jahre durch seine Aussagen u.a. Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Horst Mahler vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht schwer belastete. Ruhland selbst kam wegen Mitgliedschaft in der RAF mit der relativ milden Strafe von viereinhalb Jahren Knast davon und wurde durch einen Gnadenakt des damaligen Bundespräsidenten Heinemann vorzeitig und mit einer neuen Identität ausgestattet entlassen. Gerhard Müller, damals in der Presse als der „Geliebte Ulrike Meinhofs“ bezeichnet und selber Mitglied der RAF, wurde zu einem weiteren wichtigen Kronzeugen. Obwohl er unter dem dringenden Tatverdacht eines Polizistenmordes und der Mittäterschaft bei mehreren Anschlägen stand, konnte Müller, nach einem „Deal“ mit der Anwaltschaft, nach fünf Jahren das Gefängnis verlassen. Insgesamt ein Dutzend Verurteilungen im Zusammenhang mit dem deutschen Herbst 77 hat die Justiz den Aussagen der beiden Kronzeugen Hans–Joachim Dellwo und Volker Speitel zu verdanken. Beide waren wegen Mitgliedschaft in der RAF und der Kurierdienste für diese Gruppe angeklagt und belasteten ihre ehemaligen Genossen schwer. Da die Bundesanwaltschaft in der Regel mit keinen Indizien gegen die Angeklagten aufwarten konnte, beruhten die z.T. lebenslänglichen Verurteilungen oft ausschließlich auf diesen Aussagen. Volker Speitel diente schließlich auch als Zeuge für die regierungsamtliche Version von den Selbstmorden in Stammheim 1977. Speitel und Dellwo selber kamen mit niedrigen Haftstrafen davon und erhielten nach eigenen Aussagen für ihre Tätigkeit vom BKA eine neue Identität und Geldleistungen von mehreren Tausend Mark (Speitel sprach von 60.000 Mark). Der vielleicht aktuellste Kronzeuge der bundesdeutschen Justiz ist Jürgen Bodeux, der mit seinen Aussagen dazu beigetragen hat, daß im sogenannten Schmücker–Prozeß in diesem Sommer auch im dritten Durchgang ein lebenslängliches Urteil erging. Bodeux, ursprünglich selbst an der Mittäterschaft an dem Mord an Ulrich Schmücker angeklagt, hatte als einziger im Prozeß ausgesagt. Bodeux erhielt als „Entschädigung“ für seine Aussage eine relativ geringe Strafe von fünf Jahren und kam nach der Hälfte der Zeit frei. Glück hatte die Berliner Justiz mit diesem Kronzeugen bisher nicht. Zwei Urteile im Schmücker–Prozeß wurden bisher vom BGH mit Verweis auf die zu wenig durchleuchtete Rolle des Kronzeugen Bodeux wieder aufgehoben. Ve