Politischer Investitionsstreik in Brasilien

■ Preiskontrollen und die Verfassunggebende Versammlung veranlassen Multis zum Abzug von Kapital / Selbst aus den Auslandsschulden wird Profit gezogen

Von Elmar Altvater

Am 15. November finden in Brasilien besonders wichtige Wahlen statt. Denn es werden nicht nur die Gouverneure der Bundesstaaten für die nächsten vier Jahre bestimmt; es wird auch die Verfassunggebende Versammlung (Constituinte) gewählt, die die Weichen für die zukünftige Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung Brasiliens stellen wird. Das ausländische Kapital in Brasilien verspricht sich offenbar nichts Gutes von der Constituinte; jedenfalls hat die Rückführung von Kapital aus Brasilien (Repatriierung) Ausmaße angenommen, wie nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten der Militärdiktatur. Die Regierung ist besorgt, da durch diese „Abstimmung mit den Dollars der Multis“ ihr sowieso fragwürdiges wirtschaftliches Stabilisierungsprogramm zum endgültigen Scheitern gebracht werden könnte. Permanenter Aderlaß Brasilien ist mit etwa 106 Mrd. US–Dollar das höchst verschuldete Land der Welt und trotzdem konnte 1985 ein reales Wachstum des Sozialprodukts von 8,3 Kreises schien geschafft: Die Bezahlung des Schuldendienstes in Höhe von 14 Mrd. US–Dollar (darunter allein 11,1 Mrd. US– Dollar Zinsen) an die transnationalen Banken und die Finanzierung des Wirtschaftswachstums, übrigens im vergangenen Jahr des höchsten in der ganzen Welt. Allerdings ist der Preis nicht unbeträchtlich: Wenn über mehrere Jahre (vom Ausbruch der Schuldenkrise 1982 bis 1985) 5,5 Ausland transferiert werden müssen (1986 werden es mit 4,6 rund 50 Mrd. US–Dollar in dem genannten Zeitraum (denen weitere 39,7 Mrd. US–Dollar bis 1987 hinzuzuzählen wären), dann sind die Folgen für Massenkonsum und Investitionen desaströs. Die Investitionsquote ist denn auch in Brasilien von 22,5 Jahre 1980 auf 16,3 Pro–Kopf–Einkommen hat sich seit 1980 um 1,2 Schluß sein. Brasilien war sowieso mit diesem Erfolg eine Ausnahme in der tristen Welt der hochverschuldeten Länder. Der Sturz aus der Armut ins Elend für die breiten Massen ist die Regel. Kein Wunder, denn allein das arme Lateinamerika hat an die reichen Gesellschaften der nördlichen Erdhälfte in den vergangenen vier Jahren netto 106 Mrd. US–Dollar zahlen müssen. Das hohe Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahres, das sich 1986 mit geringerer Rate fortsetzte, war nicht durch neue Investitionen angeregt worden, sondern vor allem durch verbesserte Auslastung der vorhandenen Kapazitäten. Unternehmer, insbesondere die knallhart kalkulierenden Multis, hatten ihre Politik des Rückzugs fortgesetzt. Hohe Gewinntransfers der Multis Nach der Devise „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ haben sie in den Jahren seit 1982 permanent ihre Direktinvestitionen verringert. Auch der Wirtschaftsaufschwung konnte diesen Trend nicht brechen. Im Jahre 1986 ver ringerten die Weltfirmen ihr Engagement sogar um 330 Mio. US– Dollar, insbesondere indem sie Beteiligungen verkauften. Hinzu kommen Gewinntransfers der Multis ins Ausland von über 2,5 Mrd. US–Dollar, so daß der Aderlaß der Zinszahlungen auf die Außenschuld noch um die Profitüberweisungen vergrößert wird. Die brasilianische Gesetzgebung (unter dem Präsidenten Joao Goulart in den 50er Jahren erlassen) erlaubt den jährlichen Transfer von bis zu 12 die seit dem Ende der brasiliani schen Militärdiktatur (1984) von den Unternehmen aus den Demokratien des entwickelten Kapitalismus weidlich genutzt wird. Die Multis antworten auf die sozialen, politischen und natürlich auch ökonomischen Veränderungen, die in Brasilien in den vergangenen zwei Jahren stattgefunden haben. Ihre Antwort heißt Boykott, Investitionsstreik. Die Wirtschaftszeitung „Senhor“ listet auf, was den Multis so gar nicht an der „neuen Republik“ Brasiliens gefällt: Erstens das Einfrieren der Preise im Rahmen des ökonomischen Stabilisierungsprogramms der Regierung (seit Februar 1986); zweitens die Interventionen der Regierung in die Ökonomie; drittens das hohe Defizit im Staatshaushalt; viertens die außenwirtschaftliche Schwachstelle, wenn Brasilien wieder mehr wird importieren müssen und dann der Handelsbilanzüberschuß verschwindet. Nicht zu vergessen ist fünftens die Furcht vor der Verfassunggebenden Versammlung, die am 15. November gewählt werden wird, und die möglicherweise die für die Multis so günstigen Gesetze ändern und vor allem den Gewerkschaften größere Rechte einräumen könnte. Geschäfte mit der Außenschuld Also ein politischer „Investitionsstreik“ transnationaler Konzerne, der die Stabilisierungspolitik der Regierung unterläuft? Zweifellos ist dies der Fall; General Motors, Volvo oder KWU sind schließlich ihrem kapitalistischen Zweck verpflichtet und keine Tendenzunternehmen mit Wohlfahrtszielen. Aber es kommt etwas hinzu. Die Verschuldungskrise erleichtert und stimuliert diesen Prozeß. Beispielsweise kann ein Unternehmen inzwischen mit einem Abschlag von etwa 25 den USA kaufen, diese aber zum Nennbetrag von 100 Geld in Brasilien operieren. Die Außenschuld Brasiliens verringert sich um den jeweiligen Betrag, der in Cruzados umgewechselt wird. Aber es kommen keine so dringend benötigten Devisen ins Land, während auf der anderen Seite die Gewinntransfers aus Brasilien kräftig ansteigen. Schulden als gutes Geschäft Also ist die Verschuldung nicht nur der Hebel zur Aneignung der Zinsen, sondern auch Mittel der Erleichterung des Tranfers von Gewinnen, Geschäftsanteilen oder Aktien ins Ausland. Ein Ausverkauf der Wirtschaft, die im Zwang endet, noch mehr zu exportieren, weniger also inländisch für Konsum und Investition zu verwenden. Und nicht zuletzt ist es ein politisches Druckmittel, mit dem nationale Wirtschaftspolitik, die zum Teil auch gegen die Konzerne geht (Preiskontrollen), verunmöglicht werden soll. Wie sagt doch der Vizepräsident von General Motors in Brasilien (und gleichzeitig Präsident des Verbande der Automobilindustrie): „Die Löhne und die Verfassunggebende Versammlung gehen als Risikofaktoren in unsere Kalkulationen ein; doch wirklich beunruhigt sind wir nicht. Was uns Sorgen bereitet sind die Preiskontrollen.“ Die geplanten Investitonen von 500 Mio. US–Dollar würden nur durchgeführt, „wenn es eine Preisanpassung gibt.“ Natürlich nach oben, und es ist ihm egal, ob diese durch den Markt oder die Regierung erfolgt. Irgendjemand muß natürlich dafür zahlen.