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P O R T R A I T Eine makellose revolutionäre Biographie

■ Zum Tod von Stalins treuem Apparatschik Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, der im Alter von 96 Jahren starb

Den berühmten „Molotow–Cocktail“, die benzingefüllten Flaschen, hat er selbst nicht erfunden. Das waren die Budapester Aufständischen von 1956. Auch als Schöpfer neuer Getränke wird er nicht in die Geschichte eingehen. Bemerkenswert war der jetzt im Alter von 96 Jahren Entschlafene Molotow gleichwohl - zunächst vor allem wegen seiner Treue zu Stalin. Während der großen Säuberungen von Mai 1937 bis September 1938 strich Stalin seinen Paladin eigenhändig aus der Liste der „geliebten Führer unserer Partei“ und ließ ihn sechs Wochen lang zwischen Leben und Tod zappeln. Während Molotow dann doch begnadigt wurde und seine Staatsämter behielt, verschwand seine Frau, die er sehr geliebt haben soll, jahrelang in die Lagerwelt. Selbst ein scheinbar so mächtiger Mann konnte andere zwar in den Tod schicken, nicht aber nahestehende schützen. Erst 1953 wurde die Familie auf die persönliche Intervention des damaligen Innenministers Beriya wieder vereinigt. Auf Menschen wie Molotow also ruhte das Stalinsche System. Auch in einer zweiten Hinsicht macht die Person Molotow das sowjetische Herrschaftssystem erklärbarer: Er hatte eine feine Witterung für Machtstrukturen und setzte bis zu Stalins Tod immer auf das richtige Pferd. Aber dennoch war er nicht einfach ein Karrierist: Seine revolutionäre Biographie war makellos. Der am 3. März 1890 als Sohn eines mordwinischen Beamten im Bezirk Wjatka (heute Kirow) Geborene trat mit 16 Jahren in die Partei ein, wurde schon 1909 wegen „illegaler Wühlarbeiten“ nach Wologda verbannt, lernte 1911 Lenin und Stalin in Petersburg kennen, leitete ab 1912 die illegalen Parteizeitungen Prawda und Swesda, führte von Rußland aus die Korrespondenz mit dem emigrierten Lenin, kam 1915 nach mehreren Verhaftungnen nach Sibirien, von wo er 1916 wieder nach Petersburg zurückflüchtete. Er war an der Revolution und dem Bürgerkrieg nicht als Redner oder Stratege beteiligt, sondern als Organisator, der seinen Aufstieg machte. 1930 wurde er Vorsitzender des „Rats der Volkskommissare“. Als solcher trug er die Mitverantwortung für die Massaker, die mit der Kollektivierung begannen und in die große Säuberung mündeten. Sein Stern als Außenpolitiker begann im Mai 1939 zu steigen, als er Maxim Litwinow als Außenminister ablöste. Stalin ersparte es den Vertretern Nazi–Deutschlands auf diese Weise, mit einem Juden den berüchtigten „Nichtangriffspakt“ vom 23. August 1939 abzuschließen. Die Kunst Molotows bestand darin, den diplomatische Stil zu beherrschen. Er verhandelte mit den Westmächten, bis der Vertrag mit Deutschland perfekt war. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion konstruierte er die Anti–Hitler–Koalition mit. Auf den Konferenzen von Teheran (1943), Jalta und Potsdam (1945), gelang es seinem und Stalins diplomatischem Geschick, sich die mit Nazi–Deutschland vereinbarten Grenzen von den Westmächten bestätigen zu lassen. Staatsmann wurde Molotow aber auch nach Stalins Tod 1953 nicht. Er war Berater, Diplomat und Intrigant, aber kein Politiker. Sein Abstieg begann mit dem allmählichen Aufstieg Chruschtschows. Mit Malenkow und Kaganowitsch gehörte Molotow zu den Gegnern des neuen Parteichefs. Sie bekämpften die mit dem 20. Parteitag eingeleitete Entstalinisierung, die nicht nur in Polen und Ungarn verfrühte Hoffnungen geweckt hatte. Sie bekämpften auch das „Neuland–Programm“ in der Landwirtschaft und forderten stattdessen eine Intensivierung. Im Juni 1957 kam es zum letzten Putschversuch der Stalinistischen Opposition. Mit den Stimmen von Worschilow und selbst Chruschtschwos altem Mitstreiter Bulganin beschloß die Parteiführung, ihren alten Chef abzusetzten. Der aber gab nicht auf. Mit Hilfe von Marschal Shukow, dem Eroberer Berlins, und dem KGB–Vorsitzenden Serow wurden mit Militärflugzeugen eilends ZK– Mitglieder nach Moskau geschafft, die eine ZK–Sitzung einberufen ließen. Malenkow, Molotow und Kaganowitsch wurden als „parteifeindliche Gruppe“ ausgeschlossen. Molotow genoß die neue Sanftmut. Er wurde Botschafter in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator und tauchte 1960 nochmals kurz als sowjetischer Vertreter bei der internationalen Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) auf. Seit 1963 führte er das beschauliche Leben eines Staatspensionärs. Vor zwei Jahren wurde er wieder in die Partei aufgenommen. Im Juli diesen Jahres lobte er in einem letzten Interview Gorbatschows Reform. Sein Tod hinterläßt keine Wehmut. Seine Biographie aberkönnte die besondere Funktionsweise des sowjetischen Herrschaftssystems noch besser erhellen als die Stalins. Erhard Stölting

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