I N T E R V I E W „Gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt“

■ Daniel Cabieu, 28 Jahre, Psychologiestudent aus Caen (Normandie) und Mitglied des 14köpfigen Ausschusses der Nationalen Koordination der französischen Studentenbewegung, über die Bedeutung der Protestbewegung / Das Gespräch führten Georg Blume und Thomas Schmid

taz: Ihr habt gewonnen. Ihr habt die Rücknahme der Universitätsreform erkämpft, also den Status quo gesichert. Welche Tragweite hat Euer Sieg? Was hat sich geändert? Daniel Cabieu: Chirac hat sein Gesetzesvorhaben zurückgezogen. Das ist ein erster Sieg. Aber wir haben auch noch in einem andern Sinn gewonnen. Wir haben in unserem Land wieder eine gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt, die es anderen sozialen Schichten ermöglicht, in die Bresche, die wir geschlagen haben, einzubrechen und ihre eigenen Forderungen vorzutragen. Wir haben gezeigt, daß es sinnvoll ist, zu kämpfen, weil man gewinnen kann. Eure Bewegung, die sich ja immer als unpolitisch verstand, hat zu einer politischen Krise geführt. Und als Chirac allen euren Forderungen nachgekommen ist, habt Ihr nicht mehr richtig gewußt, wofür weiter kämpfen. War der Trauermarsch für Malik am Mittwoch der Schlußstrich unter die Bewegung? Am Anfang hat sich die Bewegung als unpolitisch erklärt, im Lauf der Ereignisse hat sie sich immer mehr radikalisiert. Ich glaube, man kann zwei Perioden der Bewegung unterscheiden. In der ersten Periode waren wir die lieben Studenten und Schüler, die schrien: „CRS (Bereitschaftspolizei, d.R.) mit uns.“ Als wir dann gemerkt haben, daß die CRS fähig ist, 15jährige Kinder zu knüppeln, hieß es dann bald: „CRS–SS“. Unpolitisch - das hieß vor allem auch, daß man auf seine Unabhängigkeit bedacht war und sich von den Parteien nicht vereinnahmen lassen wollte. Das Vertrauen in die Linke wie in die Rechte ist verloren. Aber natürlich ist es letztlich eine zutiefst politische Bewegung. Weshalb hat Chirac nachgegeben? Weil er Angst hatte, daß die Bewegung auf die Arbeiter übergreifen könnte. Es war das Gespenst vom Mai 68. Hätte er nicht nachgegeben, wäre es zum Generalstreik gekommen und es hätte sich eine unkontrollierbare Dynamik entwickelt. Ist es eigentlich nicht tragisch, daß die Bewegung auf ihrem Höhepunkt nun zu Ende geht? Es gab 15jährige Schüler, 19jährige Stu denten, die zum ersten Mal gekämpft, zum ersten Mal gestreikt haben. Und sie haben einen tollen Sieg davongetragen. Das schafft eine Generation von Jugendlichen mit Selbstbewußtsein, eine Generation, die sich als Sieger erlebt hat. Sie wird wieder auf die Straße gehen, weil sie durch ihren Sieg ermutigt ist. Wenn gestern die beabsichtigte Hochschulreform der Bewegung Pate stand, so kann diese sich morgen an ganz anderen Fragestellungen neuformieren. Denn die globalen Probleme der Gesellschaft bestehen ja weiter. Werden jetzt - wenn sich die Struktur der Studentenbewegung, die Coordination Nationale, selbst auflöst - nicht die Linksparteien und Gewerkschaften sich der aufgeworfenen Probleme annehmen, das Protestpotential aufsaugen, die soziale Dynamik in ihre Bahnen lenken? Die Werte, für die die Studenten eingestanden sind, sind in der Tat die traditionellen Werte der Linken: Gleichheit, Offenheit, Ablehnung der Marginalisierung ganzer Gesellschaftsschichten. Aber man darf nicht vergessen, daß die Linke bis zu diesem Frühling fünf Jahre lang an der Regierung war und die Werte dieser Bewegung ja nicht gerade verteidigt hat. Was hat Dich am meisten beeindruckt an Eurer Bewegung? In aller Bescheidenheit: die demokratische Struktur der Bewegung. Am Anfang haben sich ja viele die Frage gestellt, wie können wir gewährleisten, daß wir selbst unseren Kampf, den Streik kontrollieren, wie können wir vermeiden, daß sich Führer, Stars herausbilden, die ohne jegliches Mandat im Namen der Bewegung sprechen. Wir haben uns dann eine streng basisdemokratische Struktur gegeben, mit jederzeit abwählbaren Delegierten. Das war eine sehr große Errungenschaft. Dann hat man also eine Tradition der Arbeiterbewegung wiederentdeckt, die der Räte... Man hat die Strukturen wiederentdeckt, die sich die Pariser Kommune von 1871 gegeben hat, vor allem die jederzeit mögliche Abwahl der Delegierten, den Rückzug des Mandats. Bloß hat es mit der Kommune ein übles Ende genommen...