: Geschmack am Protest
■ Frankreichs Premier Chirac mußte zum zweiten Mal Streikenden nachgeben
Franois Mitterrand hat einmal mehr gut Reden. In seiner Neujahrsansprache wünschte er Frankreich den sozialen Frieden. Nach 15 Tagen Eisenbahnerstreik weiß die Rechtsregierung von Premierminister Jacques Chirac, wissen aber auch die französischen Gewerkschafter, daß gerade dieser Friede 1987 in Gefahr ist. Zwei Wochen Studentenstreik reichten, um die Universitätsreform der Regierung zu kippen. Nach zwei Wochen Eisenbahnerstreik steht Chirac erneut an der Grenze seiner Macht. Gefangen in den inneren Widersprüchen seiner rechten Regierungsmehrheit, die ihn zwingen, sein Regierungsprogramm - koste es, was es wolle - durchzusetzen, ist Chirac in der Krise erst handlungsfähig, wenn das Überleben seiner Regierung auf dem Spiel steht. Studenten und Eisenbahner hatten so die Zeit, ihre Bewegung zu einer Stärke zu formieren, die dem Premierminister nur noch den Rückzug ließ. Mit der Rücknahme der SNCF–Lohnskala erfüllt Chirac eine zentrale Forderung der Streikenden und versucht, dem Rücktritt des Verkehrsministers und damit der Regierungskrise vorzugreifen. Die Gewerkschaften ließen sich in ihrer Mehrheit auf den Handel mit der Regierung ein und wagten so bei der heutigen Urabstimmung den Test ihrer verbleibenden Autorität. Doch die Basis hat bereits ihre Gegenstrukturen entwickelt. Ihre „nationale Koordination“ - entstanden nach dem Modell der Studentenorganisation vom Dezember - wuchs gegen die Verhandlungsvereinbarung zu einer Fortführung des Streiks aus. Während der Studentenrevolte wehrten Regierung und Gewerkschaften erfolgreich den Generalstreik ab. Allein ihre Notgemeinschaft scheint heute in der Lage, den sozialen Frieden in Frankreich zu wahren. Wie lange noch, steht offen. Die Franzosen haben offenbar den Geschmack am Protest wiedergefunden. Georg Blume
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