Eine Hochburg palästinensischer Identität

■ In Beirut sind 2.400 palästinensische Familien auf der Flucht vor dem Lagerkrieg: Doch auch nach zwölf Jahren Bürgerkrieg verteidigen die Palästinenser ihre Lager

Aus Beirut Petra Groll

Die Flachdächer auf den Häusern von Mar Elias, einem palästinensischen Flüchtlingslager am südlichen Rand der libanesischen Hauptstadt Beirut werden von der strahlenden Wintersonne gewärmt. Ringsum klingt es nach fleißigen Handwerkern. Es wird gehämmert, gesägt, geklopft. Wie jedes Palästinenserlager ist auch Mar Elias eine ständige Baustelle. Sandberge verstopfen die allemal engen Gassen. Immer wieder muß man über frisch angemischten Zement, Stapel von Bauhölzern und Planken klettern. Immer wieder werden neue Zimmer an bereits bestehende Häuser angebaut, wie Zellen eines großen Bienenkorbes. Mehr als zwei Stockwerke hoch darf nicht gebaut werden, so will es eine Verordnung für die Flüchtlingslager im Libanon. Das Gelände gehört nicht den Palästinensern. Die meisten von fast einem Dutzend libanesischer Camps sind auf Grund und Boden gebaut, der vom UN–Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) gemietet wurde. Das Gelände von Mar Elias gehört der griechisch–orthodoxen Kirche. Hinter einem säuberlich eingefriedeten Sportplatz bildet das Palästinenserlager gleichsam den Kirchhof von Betine, deren Glockenturm schon während der israelischen Invasion 1982 zerschossen wurde. Flüchtlinge in Tiefgaragen Offiziell sind nicht einmal 600 palästinensische Flüchtlinge in Mar Elias registriert. Derzeit leben circa 4.000 Menschen im Lager. 1976 akzeptierte die Kirche einen Großteil der aus dem Osten der Stadt vertriebenen christlichen Palästinenser, als die Falange–Milizen die Lager Quarantina und Tel–Zaatar dem Erdboden gleichmachten. Eine weitere Welle von Flüchtlingen fand Unterschlupf in Mar Elias, als im September 1982 unter den Augen der israelischen Besatzer wiederum christliche Milizionäre in die Westbeiruter Lager Sabra und Chatila eindrangen und nach dem Abzug der PLO–Truppen die schutzlose Zivilbevölkerung massakrierten. Damals stieg die Zahl der Bewohner von Mar Elias auf ca. 2.000. Zur Jahreswende 86/87 hat der Lagerkrieg die Zahl der Flüchtlinge erneut verdoppelt. Die wenigen Unterkünfte, gewöhnlich nicht mehr als ein bis zwei Räume pro Familie, sind jetzt hoffnungslos überfüllt. Alle öffentlichen Gebäude, Büros und die UNRWA–Schule wurden zu Notunterkünften umfunktioniert. Und einige hundert Familien haben Unterkunft in Tiefgaragen gefunden, die zu Büro– oder Geschäftshäusern im von Libanesen bewohnten Teil des Stadtviertels Mousseitbeh gehören. Allein in Beirut sind nach UNRWA–Angaben 2.400 palästinensische Familien auf der Flucht vor dem Lagerkrieg. Mit Decken haben die Frauen in den einzelnen Stockwerken der Tiefgaragen kleine viereckige Zellen abgetrennt. Auf Spirituskochern bereiten sie die Mahlzeiten zu, Kinder tapsen durch die Dunkelheit, Kerzen flackern während des chronischen Stromausfalls. Die sanitären Verhältnisse spotten jeder Beschreibung. Der Großteil der Flüchtlinge kommt aus den Randgebieten der umkämpften Lager Bourj El Brajneh und Chatila. Diese Randgebiete beherbergten seit jeher Libanesen und Palästinenser. Gemeinsam war die Armut. Bei Ausbruch der Kämpfe zwischen der Schiitenbewegung Amal und den Palästinensern mußten letztere allerdings ihre Wohnungen verlassen. Die Partei der Drusen, die Progressive Sozialistische Partei (PSP), garantiert ihre Sicherheit in Mousseitbeh und Mar Elias. Chatila: Wiederaufbau! Zu den wenigen, die direkt aus dem Lager Chatila geflohen sind, gehört Umm Amir. Schlohweiße Haarsträhnen fallen unter dem weißen Kopftuch hervor und wischen über ihre tätowierte Stirn. Das traditionelle Ornament ist mit dem Gesicht alt geworden, kaum noch zu unterscheiden von Falten und Runzeln. Auch das Kinn und die heftig gestikulierenden Hände der Greisin sind mit Tatoos geschmückt. Von den Aufenthaltsorten ihrer weitverzweigten Familie berichtet die Frau aus Haifa, Veteranin der ersten Flüchtlingsgeneration. Töchter und Söhne in Jordanien, Kanada und den USA - und Chatila. Bis in die zweite Etage der Tiefgarage hallen die dumpfen Explosionsgeräusche aus dem umkämpften Gebiet, nur anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt. Umm Amir selbst hat 27 Jahre in Chatila gewohnt, jetzt ist noch eine ihrer Töchter „dort drüben“, mit zwei kleinen Kindern und ihrem Mann. Nach den anhaltenden Bombardements der vergangenen fünf Wochen (seit dem 29. November) ist das Lager fast völlig zerstört, die ca. 3.500 Menschen leben in Kellern und Bunkern. Dennoch wird die Alte fuchsteufelswild, als ob allein die Frage nach ihrer Zukunft, wenn dieser Lagerkrieg vorbei ist, schon eine schiere Gotteslästerung sei. Zurück nach Chatila. Wieder aufbauen. So, wie sie es nach der israelischen Invasion, den Massakern und nach dem Lagerkrieg 1985 geschafft hat. Keine Frage. Einen Kampf wie jetzt durchzuhalten, sei sie zu alt, meint Umm Amir. In Chatila aber seien ihre Kinder aufgewachsen, während der Massaker von 1982 sei einer ihrer Söhne dort vor der Haustür gestorben. Sie selbst werde Palästina ganz sicher nicht mehr sehen. Aber „dort drüben“, in Chatila, dort lebe die Erinnerung an Palästina. Unabhängige Infrastruktur Die Lager, Sinnbild der Vertreibung, Ort der Massaker und neuer Vertreibung sind sowohl Symbol als auch Hochburg palästinensischer Identität. Soweit es geht, versucht die Bevölkerung eines jeden Lagers eine von der Umgebung unabhängige Infrastruktur aufzubauen. Lagerkomitees regeln die sozial–politischen Entscheidungen, jedes Camp hat seine eigene kleine Klinik, in der nicht nur Palästinenser behandelt werden, sondern auch die libanesischen Bewohner der Randgebiete, die sich im weitestgehend privat betriebenen libanesischen Gesundheitssystem ärztliche Versorgung nicht leisten kann. Jedes Lager hat auch seine eigene Schule, seinen eigenen Kindergarten, seine eigenen Jugendorganisationen. Diese Einrichtungen beschäftigen sich vor allem mit der Erhaltung palästinensischer Kul tur. Natürlich sind in den Lagern neben Gewerkschaften auch die politischen Parteien vertreten. Die nötigen Finanzen kommen im wesentlichen aus den Fonds der PLO. Die wiederum werden aus Steuern gefüllt, die alle Palästinenser zahlen, aus festgelegten Summen der Staatssäckel arabischer „Bruderstaaten“, aus verschiedenen Töpfen der UNO und, in den vergangenen Jahren allerdings nur verschwindend geringen Summen von internationalen regierungsunabhängigen Organisationen. Nach dem Abzug der PLO aus dem Libanon 1982 ist die Unterstützung durch vormals überall wirkende Solidaritätsgruppen fast völlig unterblieben. So bilden die Lager palästinensische Inseln in den jeweiligen Aufnahmeländern. Am meisten Bewegungsfreiheit, die besten Bedingungen für soziale und politische Prozesse in den Lagern hat sei jeher das Chaos im Libanon erlaubt. In keinem anderen arabischen Land, mit all den mehr oder minder totalitären Regimes, konnten die Palästinenser so großzügige Nischen in der vorhandenen staatlichen Struktur vorfinden und für sich ausnutzen. Kein Wunder also, daß gerade die Lager im Libanon so verbissen verteidigt werden. Die Alternativen sind bekannt: etwa die Lager im Nachbarland Syrien, einer fast lückenlosen polizeilich–militärischen Repression unterworfen, die vor allem dem politischen Selbstbestimmungsrecht keinerlei Chancen läßt. Oder Jordanien, wo die palästinensische Bevölkerung fast untrennbar mit jordanischen Klassenstrukturen verbunden ist. Oder Ägypten, daß die palästinensischen Flüchtlinge fast völlig absorbiert hat. Noch bedrohlicher ist allerdings die Verstreuung Einzelner über die ganze Welt. Eine Fortsetzung dieser Vertreibung in alle Himmelsrichtungen würde das „Palästinenserproblem“ schleichend aber sicher „lösen“.