Anspruch auf Tariflohn auch für Teilzeitarbeit

■ Bremer Teilzeitlehrerin setzte Bezahlung nach Bundesangestelltentarif durch / Präzedenzfall für Tausende von Beschäftigten im ganzen Bundesgebiet

Von K. Wolschner u. M. Kempe

Bremen (taz) - Nach einem Urteil des Bremer Arbeitsgerichts verstößt die in allen Bundesländern verbreitete Praxis, Teilzeitlehrer(innen) nach Stundenlohn unter den Sätzen des Bundesangestelltentarifs (BAT) zu bezahlen, gegen geltendes Recht. Nach dem jetzt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Bremen bekanntgegebenen Urteilsspruch liegt ein Verstoß sowohl gegen das Anfang des Jahres verabschiedete Beschäftigungsförderungsgesetz als auch gegen das „mittelbare Diskriminierungsverbot“ des europäischen Rechts vor, das nach einer früheren Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts auch in der Bundesrepublik als rechtsverbindlich anerkannt ist. Sollte sich diese Rechtssprechung in der ganzen Bundesrepublik durchsetzen, können zehntausende in Teilzeit arbeitende Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes auf Bezahlung entsprechend dem BAT klagen. Nach der Entscheidung des Bremer Arbeitsgerichts wird die 38jährige Berufsschullehrerin Marlis Schlicht ab 1. Januar mehr als das Doppelte ihres bisherigen Entgelts verdienen. Außerdem kann sie ungefähr 20.000 Mark an Nachzahlungen für bisher vorenthaltenes Entgeld erwarten. Frau Schlicht arbeitete seit Februar 1985 an einer Bremer Berufsschule mit einem Zehn– Stunden–Vertrag, dessen Vergütung sich nicht nach den BAT–Sätzen richtete. Mit einem Satz von 25,– DM pro gegebener Unterrichtsstunde bei unbezahlten Ferienmonaten kam sie auf brutto 882 Mark pro Monat. Gegen diese diskriminierende Entlohnung klagte sie mit Erfolg: Ab 1. Januar 1987 muß sie nun entsprechend ihren stundenmäßigen Anteilen grundsätzlich nach den geltenden BAT–Sätzen bezahlt werden. Im kleinen Stadtstaat Bremen könnten nach einer Schätzung des Rechtsanwalts Dieter Dette, der die Interessen von Marlis Schlicht vertritt, allein 2.000 Beschäftigte von dem jetzt ergangenen Urteil profitieren, also auf angemessene Bezahlung und Nachzahlung dringen. Tarifreferent Söller von der Besoldungsbehörde Bremen schätzt die Zahl der Betroffenen viel niedriger, auf unter tausend. Allerdings ist die Bremer Praxis in allen Bundesländern gang und gäbe. Mit dem Urteil im Rücken könnten viele Teilzeitbeschäftigte des Öffentlichen Dienstes eine Verbesserung ihrer Beschäftigungssituation betreiben. Forts. Seite 2 Denn das „mittelbare Diskriminierungsverbot“ des europäischen Rechts zielt vor allem auf die Diskriminierung von Frauen, die oft - wie die Bremer Lehrerin Marlis Schlicht - in ungesicherten Teilzeitgbeschäftigungen arbeiten. Von den 108 betroffenen Teilzeitlehrer/innen in Bremen, die nun mit Aussicht auf Erfolg klagen können, sind allein 85 Frauen. Das Land Bremen hat noch nicht ent schieden, ob es in die 2. Instanz gehen will. Zuvor will man eine für Ende Januar angesetzte Beratung der „Tarifgemeinschaft deutscher Länder“ abwarten. Betroffen von dem Urteil ist auch die Gewerkschaft ÖTV: Im § 3q des Bundesangestelltentarifs werden alle Teilzeitbeschäftigten unter 20 Wochenstunden vom Geltungsbereich des Tarifvertrages ausgenommen. Das Bremer Arbeitsgericht ist der Meinung, daß dies dem Beschäftigungsförderungsgesetz wie auch dem europäischen Recht widerspricht. (Az 1 Ca 1146/85)