Ein Hauch von Generalstreik ist zu spüren

■ Die Streiks im öffentlichen Dienst in Frankreich gehen unvermindert weiter / Wie sich die Auseinandersetzungen weiter entwickeln, nachdem die Gehalts–Verhandlungen scheiterten, ist offen / „Entschlossenheit“ auf beiden Seiten

Aus Paris Georg Blume

An der Bushaltestelle trampe ich mit einer älteren Dame. Die Lieferfahrerin, die uns mitnimmt, freut sich über die Ampeln, die nicht mehr funktionieren. Im Cafe am Eck schließlich will der Wirt die Streikenden nicht mehr bedienen. Die Lichter sind erloschen. Nun ist die soziale Krise für alle spürbar. So leer ist die Metro am Nachmittag, als wenn die Pariser bereits dächten, sie führe überhaupt nicht mehr, seitdem sich die öffentlichen Verkehrsbetriebe dem Streik angeschlossen haben. Niemand kann derzeit von einem Generalstreik selbst nur im öffentlichen Dienst sprechen, und doch ist das Wort oft zu vernehmen. Im Fernsehen befürchtet man eine „Paralyse“ des Landes, in den Zeitungen macht das Schlagwort „Konfusion“ das Rennen, die moderaten Gewerkschaftsführer warnen vor einer „Ausweitung“ des Konfliktes. Am Abend gleicht das Radiointerview von Premierminister Chirac einer Regierungserklärung, die das Gewitter voraussagt. „Was die Lohnmasse und die Arbeitszeitdauer betrifft, wird die Regierung ihre Haltung nicht ändern. Niemals!“ erklärt Chirac und beschreibt die Situation als „beunruhigend“. Während der Eisenbahnerstreik unverändert andauert, auch wenn es der Bahndirektion mit Hilfe der Polizei inzwischen ge lingt, etwa 50 zu sichern, haben die Arbeitsniederlegungen bei den öffentlichen Pariser Verkehrsbetrieben und den staatlichen Elektrizitäts– und Gaswerken mit der erwarteten Härte begonnen. Stromausfälle über mehere Stunden sind im ganzen Land keine Seltenheit. Heute finden bei der Post erste Streikabstimmungen statt. Neue Verhandlungsangebote sind nicht abzusehen. Nach wie vor stehen die Eisenbahner am 22. Streiktag im Zentrum des Konfliktes. Als man mich bemerkt, den zufälligen Gast der Streikvollversammlung im Pariser Gare de Lyon entsteht Tumult. Schon zerrt man mich hinaus, dann endlich erlangt der Diskussionsleiter eine Abstimmung über meine Anwesenheit. Ich darf bleiben. Die Bewegung hat es nicht leicht, sich gegenüber Medien und Öffentlichkeit verständlich zu machen, obwohl man weiß, so ein Fürsprecher meiner Anwesenheit, daß es „letzendlich die öffentliche Meinung ist, die über uns urteilt.“ Dieser öffentlichen Meinung gegenüber bezeichnet Jacques Chirac die Eisenbahner als „Privilegierte mit festem Arbeitsplatz. Und dann gibt es die, die ihre Beschäftigung verloren haben.“ An sie, so Chirac, wende sich die Regierung, und nicht an die Privilegierten. Ich frage Marc Stocklin, jenen Sprecher der „Nationalen Koordination“ der Lokführer, der nun schon seit Tagen jeden Abend im Fernsehen erscheint, was er Chirac zu entgegnen habe. Seien nicht die Arbeitszeitverkürzungen, die die Koordination fordere, im Sinne der Arbeitslosen? „So haben wir darüber noch nicht nachgedacht,“ antwortet Marc. Seit einer halben Stunde sitzen wir auf dem kalten Betonfußboden des Schließfachraums im dunklen Bahnhofskeller des Gare du Nord. Draußen in der Stadt, auf der Bastille demonstrieren zur gleichen Zeit zwanzigtausend Gewerkschafter der kommunistischen CGT, die zur Ausweitung des Streiks auf die Gas– und Elekrizitätswerke und die Post aufrufen. Marc Stocklin ist wie viele Eisenbahner besorgt: „Die CGT will wahrscheinlich den Generalstreik. Dabei drohen unsere konkreten Forderungen mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten.“ Chirac, der die „Politisierung des spontanen Streiks“ denunziert, drückt es so aus: „Die CGT hat die Dinge in die Hand genommen.“ Doch so einfach ist es nicht. Ähnlich den Streikkomitees und nationalen Koordinationen der Eisenbahner ist man bei der Post und den Pariser Verkehrsbetrieben bereits dabei, die Basis zu organisieren. Die sozialistisch– orientierte CFDT–Gewerkschaft begrüßt offiziell diese Bemühungen. „Die Unfähigkeit der französischen Gewerkschaften, ihre politischen Spaltungen zu überwinden und die konkreten Forderungen der Lohnabhängigen aufzunehmen, erklärt das heutige Phänomen der Koordinationen der Basis“, meint CFDT–Nationalsekretär Kaspar. Dementgegen geht der Wirtschafts– und Sozialexperte Lipietz, einst Mitterrands Berater, heute prominenter Kritiker der sozialistischen Sparpolitik, scharf mit der Bewegung ins Gericht: „Die Form der Autonomie, die sich der Streik gibt, ist - gemessen an der historischen Entwicklung der Arbeiterbewegung - ein Skandal. Man interessiert sich nicht für die unterschiedlichen Aspekte im eigenen Berufszweig, geschweige denn für die der anderen Berufszweige.“ Doch wie unterschiedlich die Ansichten zum Streik auch immer sein mögen, ein Ende der Auseinandersetzungen sieht niemand. Die Entschlossenheit der Regierung auf der einen, die der Eisenbahner und der CGT auf der anderen Seite stehen außerhalb aller Zweifel. „Chirac kommt durch oder zerbricht,“ schreibt Serge July, Herausgeber der Liberation. So selbstverständlich leben die Franzosen den Streik, als erwarteten sie ein großes Ereignis, das keiner vorrauszusagen weiß.